Die letzte Wahrheit: Roman (German Edition)
der Suche nach etwas war « , wie Woodhouse sich ausgedrückt hatte. Ich war mit meinem Leben zufrieden.
Außerdem hatten wir unsere Freitagabende, an denen wir essen gingen; die durfte keine von uns beiden absagen. Samstags versuchten wir nach Möglichkeit, zusammen zu brunchen, und sonntagsabends kuschelten wir uns immer aufs Sofa und schauten uns einen Film an. Ab und zu unternahmen wir auch etwas am Wochenende, je nachdem, wie viele Hausaufgaben ich machen musste und ob ich Hockeytraining hatte und wie viel Arbeit meine Mom mit nach Hause brachte. Oder, neuerdings, ob gerade ein Maggietreffen angesagt war. Wir gingen ins Museum oder ins Nagelstudio. Einmal hatten wir an einem Cupcake-Spaziergang durch Manhattan teilgenommen. In den Sommerferien machten wir immer eine Woche Strandurlaub – Fire Island, Block Island, Nantucket. Und ich wusste, dass meine Mom noch viel mehr Zeit mit mir verbracht hätte, wenn es ihr möglich gewesen wäre.
Ein paar Minuten später hörte ich, wie die Haustür aufgeschlossen wurde. Dann kam meine Mom auf leisen Sohlen die Treppe hochgeschlichen, wahrscheinlich, weil sie mich nicht wecken wollte. Vorsichtig öffnete sie die Tür zu meinem Zimmer und streckte den Kopf herein. Sie hatte ihr blondes Haar im Nacken zusammengebunden und trug ihre Schildpattbrille, die ich für eine Mutter ziemlich cool fand. Sie wirkte geschafft, hatte dunkle Ränder unter den Augen. Aber trotzdem hübsch. Meine Mom war immer hübsch. Nicht auf ordinäre Weise, das wäre peinlich gewesen. Meine Mom war eine ganz normale Mutter, und zwar eine hübsche.
Ich blieb im Bett liegen, wedelte aber mit der Hand, um ihr zu zeigen, dass ich noch wach war.
» Hallo. « Sie lächelte ein bisschen überrascht. » Ich hab dich doch nicht geweckt, oder? «
» Nee. « Ich setzte mich auf und legte mein Buch auf den Nachttisch. » Ich hab noch gelesen. «
» Hast du Zum Leuchtturm nicht schon ein paar Mal gelesen? «
Das war typisch Mom. Manche Mütter sind viel mehr zu Hause und kriegen viel weniger mit. Wir waren vielleicht nicht so eine Familie wie in Erwachsen müsste man sein, doch wir waren mit unserem Leben zufrieden.
» Ja, ungefähr zehnmal. Aber wir müssen darüber einen Aufsatz schreiben, und ich hab noch mal drin geblättert, um mir ein Thema zu überlegen. «
» Solltest du dir vielleicht einen anderen Englischkurs aussuchen? « , fragte meine Mom. » Ich weiß, dass wir fanden, ein weiterer Leistungskurs wäre zu viel, aber wenn du dich langweilst, ist das auch nicht gut. « Sie wirkte besorgt. » Wir zahlen eine Menge Geld für diese Schule. Die sollten in der Lage sein, auf deine Bedürfnisse einzugehen. «
» Mom, der Kurs ist in Ordnung, echt. Liv ist meine Lieblingslehrerin. « Ich zuckte die Achseln. Meine Mom konnte sich über Dinge aufregen, die vollkommen unwichtig waren. Das war das schlechte Gewissen, weil sie so wenig zu Hause war. Es juckte sie immer in den Fingern, sich für mich starkzumachen, egal wofür. Sogar für Sachen, wo ich gar keine Hilfe brauchte. » Außerdem hab ich schon ein paar Ideen, wie ich den Aufsatz interessanter machen kann. «
» Aber du sagst mir Bescheid, wenn irgendwas schiefläuft, versprochen? « , sagte sie ernst. » Ich meine, mit den Kursen oder sonst irgendwas. «
Da dachte ich an meinen Dad. Ich glaubte zwar nicht, dass der, der mir diese blöden SMS geschickt hatte, tatsächlich irgendwas über ihn oder über mich wusste. Trotzdem hatten mich die SMS dazu gebracht, mich zu fragen, wer mein Dad eigentlich war und wo er lebte.
Angeblich war er ein Typ, mit dem meine Mom vor fünfzehn Jahren mal eine Nacht verbracht hatte. Ein » Typ in einer Kneipe « , nannte sie ihn, ein Weltverbesserer auf dem Weg nach Afrika. Es war aufregend, mir meinen Dad so vorzustellen, nur dass er überhaupt nicht nach einem Mann klang, für den meine Mom sich interessieren würde. Seth war ein Typ, auf den meine Mom stand– supernett und intelligent und zugeknöpft–, außer dass er schwul war. Im Grunde genommen ergab die ganze Geschichte keinen Sinn. Meine Mom ging nie in Kneipen. Sie trank fast nie Alkohol. Ich weiß nicht, wann ich aufgehört hatte, ihr die Geschichte zu glauben. Es war ganz allmählich passiert. Bis dahin hatte ich mich nie dafür interessiert, der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Ich hatte mir immer gesagt, wenn mein Dad es wert wäre, ihn zu kennen, hätte er längst den Kontakt zu mir gesucht.
Und dann kamen die SMS .
Sosehr ich mich auch
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