Die letzte Wahrheit: Roman (German Edition)
Aber– nimm’s mir nicht übel– was weißt du denn schon? Du hast in deinem ganzen Leben erst einen Typen geküsst. Und ich frag mich, ob ein betrunkener Bademeister überhaupt zählt. « Sie sah mich eine Weile an. Ich wartete darauf, dass sie sich an unser Gespräch in der Tea Lounge erinnerte, als sie Vermutungen darüber angestellt hatte, zu wem ich eine Beziehung haben könnte. Doch es war, als hätte das Gespräch nie stattgefunden. Ich war erleichtert und zugleich enttäuscht, dass Sylvia das Thema nie wieder angesprochen hatte. » Es ist schwer, von jemandem, der noch nie eine Beziehung hatte, Ratschläge für eine Beziehung anzunehmen. Und mit so einem Freak aus Albany SMS auszutauschen zählt nicht. «
» Ben ist kein Freak « , entgegnete ich ziemlich halbherzig.
Er hatte sich in letzter Zeit irgendwie seltsam benommen. Anfangs hatte er mich in Bezug auf Dylan total unterstützt und so, aber dann hatte er plötzlich angefangen, sich ganz komisch zu einer Art Richter aufzuschwingen. Er führte sich auf, als wäre er mein großer Bruder oder was weiß ich, und hatte mir geraten, bei Dylan vorsichtig zu sein, weil ich mich auf eine wie sie nicht verlassen könnte. Als würde er sie kennen. Ich fragte mich allmählich, ob er eifersüchtig war oder ob er es einfach leid war, dass ich dauernd von ihr erzählte.
» Du bist mir wichtig, und deswegen sag ich’s dir geradeheraus « , sagte Sylvia. » Ben ist der totale Freak. Ein Typ, der mit einem Mädchen nur reden will und sonst nichts, ist ein Freak, so oder so. «
» Ben ist schwul, Sylvia « , entgegnete ich. » Das hab ich dir schon hundertmal gesagt. Und ich bin nur mit ihm befreundet. Ich weiß nicht, warum du mir das einfach nicht glauben willst. «
» Klar. Du glaubst einfach alles, was ein Typ dir erzählt, den du noch nie gesehen hast. Wer sagt dir denn, dass er überhaupt ein Typ ist? Und selbst wenn alles stimmt, was er dir erzählt– einer, der mehr Zeit am Computer verbringt als mit richtigen Leuten, ist ein Freak, Punkt, aus. «
» Meinetwegen. « Ich zuckte die Achseln.
Aber vielleicht hatte Sylvia recht. Vielleicht sollte ich das mit Ben eine Zeitlang runterfahren. Der Eiertanz mit Sylvia und Dylan war schon anstrengend genug, auch ohne dass ich mir den Kopf darüber zerbrach, was auf einmal mit Ben los war. Ich dachte viel darüber nach, ob ich Sylvia von Dylan erzählen sollte. Das zusätzlich zu der Sache mit den Magpies vor ihr geheim zu halten war kaum auszuhalten. Ich glaubte auch nicht, dass Sylvia sich allzu sehr darüber aufregen würde, dass ich mit einem Mädchen zusammen war. Klar, sie würde sich wundern. Ich wunderte mich ja selber immer noch. Manchmal war ich mir nicht mal hundert Prozent sicher, dass es stimmte. Möglicherweise würde sie sich aufregen, weil ich ihr nicht schon früher von Dylan erzählt hatte– was sowieso gar nicht gegangen wäre, solange ich selbst noch gar nicht richtig wusste, was da mit mir passierte–, aber wegen der Sache mit den Magpies würde sie richtig ausrasten.
Und wenn ich mich irrte? Was, wenn Sylvia sich doch etwas daraus machte, dass ich mit einem Mädchen zusammen war? Schließlich waren wir Gott weiß wie oft zusammen nackt gewesen. Hatten zusammen in einem Bett geschlafen. Sylvia hatte mir gezeigt, wie man mit Tampons umging. Sie hatte mir– mit Hilfe von Zeichnungen– erklärt, wie es war, wenn ein Mann in einen eindrang. Bisher hatten wir nie Geheimnisse voreinander gehabt. Was, wenn sich alles änderte, wenn ich es ihr erzählte?
» Ms Golde? « , rief jemand vom anderen Ende des Schulhofs, ehe ich dazu kam, mir ein Herz zu fassen und das mit Dylan zu beichten. Wir schauten hin, und da stand die Schreckschraube Dr. Lipton, die Schulpsychologin. Mit ihrer bleichen Haut und dem hochgeschlossenen schwarzen Kleid sah sie mal wieder aus wie ein Vampir. » Wir hatten einen Termin, Ms Golde. «
» Ach du Schande « , sagte Sylvia so laut, dass Dr. Lipton es hören konnte.
» Ist was passiert? « , fragte ich.
Sylvia hatte am Ende ihres ersten Highschooljahrs ein paar Probleme gehabt. Ihre Mom hatte sie ein paarmal dabei erwischt, wie sie sich ritzte. Es war nicht so schlimm gewesen, wie es sich angehört hatte, zumindest nach Sylvias Meinung. Trotzdem war ihre Mom total abgedreht. Sie hatte Sylvia zu mindestens zehn Therapeuten geschickt und ihr zusätzlich Dr. Lipton auf den Hals gehetzt. Aber in diesem Jahr war bisher alles gut gegangen. Soweit ich wusste, jedenfalls.
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