Die letzte Wahrheit: Roman (German Edition)
Nein, nichts ist passiert « , sagte Sylvia. » Aber meine Mutter geht mir mal wieder auf den Keks. «
» Im Ernst, Sylvia, alles in Ordnung? « Ich hatte schon ein schlechtes Gewissen gehabt, als sich rausstellte, dass ich von der Sache mit dem Ritzen beim ersten Mal überhaupt nichts mitbekommen hatte, und wollte nicht, dass mir das noch mal passierte. » Ich meine, wegen der ganzen Geschichte mit Ian und so. «
» Herrgott, ja, was regt ihr euch immer alle so auf « , zischte Sylvia und stand auf. » Für eine, die mit einem angeblich Schwulen rummacht, solltest du dir lieber Sorgen um dich machen anstatt um mich. « Dann ging sie zu Dr. Lipton.
Es war mein Glück, dass Dr. Lipton aufgetaucht war, denn ich hätte keine Ahnung gehabt, wie ich Sylvia sonst hätte loswerden sollen, um pünktlich zu dieser » Fotosession « zu Hause zu sein. Am liebsten wäre ich aus diesem bescheuerten Spiel ausgestiegen, aber ich wusste nicht, wie ich das anstellen sollte, ohne Dylan vor den Kopf zu stoßen. Und es lief so gut zwischen uns, das wollte ich nicht vermasseln.
Ich ging mit dem Strom zurück ins Schulgebäude, dann bog ich vor dem Atrium scharf rechts ab und verdrückte mich durch den Seiteneingang. Von den Maggies wusste ich, dass die Feuertreppe der beste Fluchtweg war. Auf der Seite des Gebäudes lagen weder Klassenzimmer noch Verwaltungsbüros. Inzwischen war ich schon mindestens fünfmal mitten am Tag über die Feuertreppe abgehauen, es war überhaupt kein Problem. Links abbiegen, dann noch mal links, durch ein paar Türen ins Treppenhaus und dann…
» Hi « , sagte Liv und klappte ihren Laptop zu.
Sie hockte auf der Treppe. So wie sie mich anschaute, hätte ich wetten können, dass ich sie beim Pornokucken erwischt hatte. Ich selbst fühlte mich auch ertappt. Beinahe hätte ich mich auf dem Absatz umgedreht, aber es war zu spät. Leider gab es keine andere Erklärung für mein Erscheinen in diesem Treppenhaus als meine Absicht, die Schule zu schwänzen.
» Hi « , sagte ich, immer noch in der Hoffnung, mir würde ein plausibler Vorwand einfallen.
» Da haben wir uns also gegenseitig ertappt, was? « , sagte Liv, als könnte sie meine Gedanken lesen. Wie immer sah sie hübsch aus in ihrer leichten Bluse und mit der dicken Halskette. » Ich müsste eigentlich bei einer Lehrerkonferenz sein, und du hast mich dabei erwischt, wie ich heimlich hierhocke und an einer Geschichte arbeite. «
» Wovon handelt sie denn? « , fragte ich. Über Livs Geschichte zu reden fiel mir leichter, als ihr zu erklären, was ich dort zu suchen hatte.
» Wovon handelt was? « Jetzt war es Liv, die sich komisch benahm.
» Die, äh, Geschichte? «
» Ach, von einem Jungen und einem Mädchen, die unglücklich verliebt sind. Ich arbeite noch daran « , sagte sie lächelnd. » Apropos Geschichten, Amelia, ich bin froh, dass wir uns treffen. Ich muss dir etwas sagen. «
» Was denn? «
» Kein Grund, nervös zu werden. Es ist nichts Schlimmes– ich habe deine Geschichte für das Literaturstipendium eingereicht. «
» Wie bitte? « Ich hatte ihr doch gesagt, dass ich das nicht wollte. Welcher Lehrer machte denn so was?
» Ich weiß, ich habe mich einfach über das hinweggesetzt, was du mir gesagt hast, und ich habe ein schrecklich schlechtes Gewissen deswegen. « Sie schüttelte den Kopf. » Ich finde, du bist wirklich außergewöhnlich talentiert, und ich wollte dich unterstützen. Aber bloß weil ich persönlich solche Stipendien für kreatives Schreiben für eine gute Sache halte, heißt das noch lange nicht, dass du das auch tust. Ich war wohl so frustriert darüber, dass es mir einfach nicht gelingt, etwas zu veröffentlichen, dass ich– jedenfalls stand es mir nicht zu, diese Entscheidung für dich zu treffen, und es tut mir leid. Das ist alles, was ich dazu sagen kann. «
Ich schaute auf meine Schuhe und kam mir seltsam entblößt vor, bis mir aufging, dass ich das alles ganz falsch sah. Zwar ärgerte es mich, dass Liv das getan hatte, aber wenn sie deswegen so ein schlechtes Gewissen hatte, konnte ich die Situation ausnutzen und doch noch rechtzeitig nach Hause kommen.
» Macht nichts, schon in Ordnung « , sagte ich. » Aber ich muss jetzt wirklich los. Ich hab, äh, einen Zahnarzttermin. Meine Mom hat vergessen, mir eine Entschuldigung zu schreiben und… «
» Oh « , sagte Liv leise. Ich wusste nicht, ob sie mir glaubte. Eigentlich wirkte sie eher so, als wäre das nicht der Fall. » Ein Zahnarzttermin, so, so?
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