Die letzten Dinge - Roman
Wahrnehmungen hatte, die außer ihr niemand sah. Man hatte sie sogar verprügelt, als sie behauptet hatte: Guck mal, da sitzt Onkel Richard im Sessel – wo doch jeder wusste, dass Onkel Richard gestorben war. Erst später, nachdem sie darüber gelesen hatte, war ihr klar geworden, dass sie tatsächlich ein spezielles Talent hatte, das sie ihrer Bestimmung nach zum Guten für die Menschen anwenden musste.
Pater Ludolfus hatte genug gehört. Er sprang aus dem Fernsehsessel und griff nach dem Telefonbuch. Rittmeisters. Mainz. Wäre doch gelacht. Es musste eine Schwester von dem ollen Jost sein oder eine Kusine oder irgendwas. Diese nette, kluge Rittmeisterin musste ihm helfen, das war sonnenklar.
Danke, Gott, sagte Ludolfus. Klare Ansage.
Ludolfus hatte sogar ein älteres, zerfleddertes Telefonbuch von Mainz. Mal sehen. Rittmeister, las er. Rittmeister, Rittmeister, Albert, Alfred, Axel … hier, … Paula, Peter … Renate Rittmeister! Da stand sie, dick und fett, einfach so! Wenn alles so einfach ging, dann war es gottgewollt. Hoffentlich war jemand zu Hause. Hoffentlich ertrank die Frau nicht im Sturm der Anfragen. Wenn ja, dann wolle er der Erste sein. Er konnte nur hoffen, dass er als Pater irgendwie punkten konnte, und würde die Notwendigkeit der Angelegenheit besonders hervorheben. Und andächtig lauschte er einem langen Tuut, einem weiteren langen Tuut, dann noch einem. Wenigstens hatte er in ihrer Wohnung schon einmal Laut gegeben. Er rechnete fest mit dem Ansagetext, mit den Worten: Diese Nummer ist uns nicht bekannt: Frau Rittmeister hat ab sofort eine Geheimnummer! Er stellte sich ein auf eine Sekretärin, die einen Termin in vier Wochen vergab, wusste, dass das Gespenst im Abendrot noch wochenlang weiterspuken durfte – und doch war er wie besessen, die sympathische Dame aus der Sendung kennen zu lernen. Es musste einfach sein. Nicht umsonst flüsterte Gott Ludolfus von Zeit zu Zeit etwas ins Ohr. Man musste nur zuhören können, dann verstand man, was Gott einem eingab zu seinem Besten. Aber die Leute waren ja taub und dämlich. Die meisten jedenfalls.
Es knackste. Ludolfus kriegte einen Hustenanfall und wäre sich beinahe auf die Kutte getreten. Ein Hörer wurde abgenommen. Ludolfus blieb die Spucke weg. Dann hörte er es und er täuschte sich nicht. Die Stimme sagte bescheiden und freundlich und etwa fünfzigjährig und eindeutig weiblich:
Rittmeister?
Ludolfus schluckte.
Beinahe wäre er verführt gewesen.
Aber er war ja schließlich ein Pater. Fiel ihm wieder ein. Da ging das ja nicht.
»Zu Bacharach am Rheine eine Zauberin, die war so schön und feine und riss viel Herzen hin.« Am Sonntag wollten Lotta und ihre Eltern und Sebastian und Fanny nach Bacharach fahren, zur schönen Loreley. Lotta sah sich versunken im Spiegel an und dachte an ihre Kinderzeit, an das Bötchenfahren auf dem Rhein. Das Wasser strömte links und rechts am Bug vorbei, die grüngoldenen Weinberge lagen sonnig auf den Hügeln und Sebastian hatte behauptet: da oben! Da oben sitzt die Loreley und kämmt ihr Haar!
Lotta aber hatte sich von ihrem Vater alle Geschichten über den Rhein erzählen lassen, die Geschichte vom Binger Mäuseturm, von Wassernixen und den sieben toten Rittern, die im Rheine schwammen. Besonders liebte Lotta die Legende von der Schönburg, auf der sieben Jungfrauen wohnten, die so schön waren, dass alle Ritter und Fürsten ihnen verfallen waren. Die Jungfrauen jedoch waren so spröde gewesen, dass sie in sieben Felsspitzen verwandelt wurden, man konnte sie vom Boot aus sehen, wenn man unterhalb von Wesel an ihnen vorüberfuhr.
Was sollte sie anziehen? Lotta zählte ihr Geld. Sie hatte noch nicht viel verdient, aber sie konnte unmöglich in ihren alten Klamotten fahren. In die Kleiderkammer ging sie nicht mehr, das Gespenst hatte sie zu sehr erschreckt. Sie mied sogar die Tür der Kammer und ging im äußersten Bogen daran vorbei auf ihr Zimmer. Und an die angrenzende Wand hatte sie den glitzernden Jesus aus dem Schwulenladen gehängt. So fühlte sie sich einigermaßen beschützt. Das Gespenst konnte ihr also nichts tun und man gewöhnte sich schließlich an alles.
Lotta hatte Lust, einkaufen zu gehen. Für irgendein Strickkleid bei H&M würde es noch reichen. Und in einer Woche war der Oktober vorbei – dann gab es wieder Geld. Das war doch wunderbar.
Lotta freute sich auf Bacharach, ein Ausflug so wie früher. Vielleicht fragten die Eltern sie wieder nach der Ausbildung. Und vielleicht
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