Die letzten Dinge - Roman
wäre gekommen, dann konnten sie ein wenig russisch reden. Aber vielleicht kam sie ja später.
Dreimal klopfte sie an . Wartete. Dann klopfte sie noch dreimal. Schließlich holte sie den eigenen Schlüssel aus der Tasche ihres Popelinmantels und öffnete die Tür.
So hatte sie es sich vorgestellt. Genau so. Ihr Sohn, Karl Kurtacker, verwüstet. Der Bart gewachsen, die Haare, die ihm in die Augen fielen, der halbirre Blick. Sein Rollladen war fast ganz geschlossen, das Bett war nicht gemacht und voller Flecken. Aber sie wagte nichts zu sagen, sie konnte keinesfalls zu den Pflegern gehen und sagen: Wie könnt ihr es wagen, meinen Sohn derart zu vernachlässigen. Sie hatte Angst um jeden Pfleger, der hineinging. Sie erinnerte sich immer noch an die Peinlichkeit, als er dem Pfleger Iwan den Arm ausgekugelt hatte. Und die Platzwunde an Kevins Kopf. – Er gehört eigentlich in die Psychiatrie -hatte der Heimleiter gesagt. Aber dann hatte Karl immer bleiben dürfen, weil Emilie so anfing zu weinen. Dabei hatte sie eigentlich nur angefangen zu weinen, weil es schon wieder eine Station gab in seinem Leben, schon wieder eine Veränderung, schon wieder ein Ort, wo ihr Sohn nicht hingehörte. Es waren die Nerven. Im Grunde war es ihr egal, ob ihr Sohn in der Psychiatrie war oder im Pflegeheim. Wenn er sich nur mit irgendetwas beschäftigen würde! Kartenspielen oder singen oder Gedächtnistraining oder Sport. Das Heim bot so vieles an. Nein, Kurtacker wollte in seinem Zimmer bleiben und düsteren Gedanken nachhängen und so kam es, dass das ganze Zimmer erfüllt war von Düsternis und er selbst am Tage die Rollläden nicht mehr hochziehen wollte.
Emilie machte es einfach. Zog das Rollo hoch und ließ Licht auf Kurtackers finsteres Gesicht fallen. Er blinzelte und grummelte, ließ es aber geschehen. Erst als sie auch noch das Fenster öffnete, wurde er wütend. Er mochte es nicht, wenn die Fenster geöffnet waren.
Aber Emilie beschäftigte sich weiter, um der schwierigen Frage aus dem Weg zu gehen, der Frage, worüber sie sich mit ihm unterhalten sollte. Sie lief herum, schüttelte die Kissen auf und bezog das Bett frisch. Bei Emilie gab er wenigstens keine Widerworte, sah ihr nur stumm zu und ergab sich in sein Schicksal.
Hast du noch den kranken Zahn?
D-D- Der Zahnarzt war da. – Hat den Zahn gezogen.
Bei der Vorstellung, dass ein richtiger Zahnarzt im weißen Kittel hier in dieser muffigen Bude gewesen war und Karl in seinem fauligen Zahnfleisch herumgewühlt hatte, wurde ihr ganz übel. Dass der das überhaupt überlebt hatte.
Hat er dich betäubt?
Ja – ich habe fest geschlafen.
Vielleicht hatte er ihn betäubt wie einen Elefanten. Emilie zog die Schublade auf und nahm die Schere heraus. Sie musste es einfach versuchen, manchmal gelang es ja. Die Schere war stumpf und alt, das kam erschwerend hinzu. Am besten fragte sie ihn gar nicht, er wusste ja, um was es ging. Sie nahm die Schere, ging näher an ihn heran und versuchte, ihm die Ponyfransen abzuschneiden. Karl Kurtacker sah finster auf seine Knie, hielt den lahmen Arm mit dem gesunden fest und sah grollend zu, wie ihm die Haarschnipsel von der Stirn in den Schoß fielen. Er blinzelte und zwinkerte und wollte die Haare von den muskelschwachen Beinen fegen, und das Hängenbleiben der Haare am Knie löste die nächste Wutwelle aus, jetzt konnte er sich nicht mehr beherrschen. Erst Licht, dann Luft, dann frische Bettwäsche, dann Haare, die ihm aus dem Gesicht fielen – jetzt reichte es.
Hör auf, du dumme Sau!
In sinnloser Wut griff er verbissen in die Räder seines Rollstuhles und kurvte zum Fenster. Der Pony war halb kurz und halb lang und sein nackter Oberkörper war mit Haaren bedeckt. Emile sank auf den kleinen leeren Fleck des über und über mit Kleidern behängten Sessels. Sie seufzte. Welcher Sohn nannte seine Mutter schon eine dumme Sau. Sie war so bestraft, so bestraft vom Schicksal. In Schuld und Scham musste sie ihr Dasein verbringen. In Schuld und Scham. Sie wusste ja, gleich tat es ihm wieder leid und dann fing er an zu weinen oder so. So lange musste sie warten. Dann schnitt sie die Haare weiter. Dumpf blickte Kurtacker eine Weile vor sich. Dann bedeckte er seine gelähmte Gesichtshälfte mit der Hand und begann tatsächlich, Tränen zu vergießen. Ach, die geschundene Kreatur! Das Hin, das Her, jedes Mal. Emilie seufzte schwer und stand wieder auf. Die Gelegenheit war günstig, einfach weiter schneiden. Sie nahm die zweite Hälfte vom Pony
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