Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)
aber in jeder schlaflosen Nacht wieder aufs Neue erinnert wurde– wie wenn man mit der Zunge an einen schmerzenden Zahn stößt.
Es war der glücklichste Tag seines Lebens gewesen. Allerdings gab es nicht viel Drängelei um diesen Ehrenplatz in seinem Leben. Im Gegensatz zu den bereits erwähnten volkstümlichen Romanzen nimmt nämlich das wirkliche Leben keinerlei Rücksicht darauf, ob es seinem Höhepunkt in einem ordentlich konstruierten Handlungsaufbau zustrebt, wie das bei einer romantischen Erzählung der Fall ist, in der deshalb dieser Höhepunkt unweigerlich am Ende kommen muss. Wie vielen Männern und Frauen oder auch wie vielen Kindern ist nur sehr allmählich bewusst geworden, dass der Höhepunkt in ihrem Leben längst hinter ihnen liegt? Ein melancholischer Gedanke, und der einzige Trost besteht darin, dass man nie wissen kann– die Dinge könnten sich wieder zum Besseren wenden, etwas ereignet sich, das einen verdorbenen Tag plötzlich in einen Glückstag verwandelt, ein schöner Fremder, ein Kind lächelt voller Glück, unerwartete Anerkennung, eine zufällige Begegnung, eine glückliche Rückkehr, alles ist möglich. Denn über allem schwebt dieser große und unvergängliche Trost: Man kann nie wissen.
In jener Nacht war Cale allerdings für derartige tröstliche Philosophiererei nicht zugänglich. Er träumte sich in Arbells Bett zurück, aber es kam ihm so vor, als sei es vor Jahrhunderten gewesen.
Sie lag schlafend neben ihm, atmete leise und ließ manchmal kleine süße Seufzer hören. Aus irgendeinem Grund hatte er in jener Nacht nicht einschlafen können; die sorgloseren Zeiten schienen erst einmal vorbei zu sein, und mit ihnen war auch seine besondere Begabung verschwunden, jederzeit und mit Leichtigkeit einschlafen zu können. Ein paar Schritte entfernt brannten noch ein paar Kerzen; er stand auf, um etwas zu trinken. Im milden, flackernden Kerzenlicht lehnte er sich mit dem Becher in der Hand an eine Wand und betrachtete sie. Er hasste es, mit anderen Jungen oder Männern in einem Raum schlafen zu müssen, hatte es immer gehasst, sie auch nur anzuschauen, ihre Geräusche hören und ihren Gestank riechen zu müssen, wenn sie um ihn herum in irgendwelchen schuppenähnlichen Schlafsälen ihren Träumen nachjagten. Hier war es anders. Das Kerzenlicht schadete ihrem Gesicht keineswegs– es schmeichelte ihrer etwas zu großen Nase, die, wäre sie kleiner gewesen, ihrem Gesicht etwas Puppenhaftes verliehen hätte, ihren etwas zu vollen Lippen, die aber bei ihr genau richtig waren. Wie kam es, dass er überhaupt hier sein durfte? Wie hatte es geschehen können? Eine plötzliche Freude wallte in ihm auf, das Gefühl, dass alles so, wie es war, wunderbar war, dass das Leben voller Möglichkeiten war. Langsam und vorsichtig ging er zum Bett und hob behutsam das Laken von ihrem Körper. Nackt lag sie schlafend vor ihm, ein langer, schlanker Körper mit kleinem Bauchnabel, einem letzten Hauch von Babyspeck, mit kleinen Brüsten– wie konnte etwas nur so schön sein?–, mit langen Beinen und ein wenig zu kurzen und zu dicken Zehen an den kleinen Füßen. Er betrachtete sie von oben bis unten, voller Bewunderung, und schließlich, ein wenig zögernd, glitt sein Blick zu dem dunklen, halb versteckten Haardreieck zwischen ihren Beinen. Er hielt den Atem an. Hatte der Himmel etwas Besseres zu bieten als dieses Wunder einer kleinen sanften Falte im Fleisch?
»Was machst du denn da?«
Sie hatte sich nicht bewegt, sondern nur die Augen aufgeschlagen, und schon war sie hellwach. Hätte er in diesem Moment in ihr Gesicht geblickt, wie er es die meiste Zeit auch getan hatte, oder hätte er sich ihr zugewandt, so hätte sie die Zärtlichkeit in seinem Gesicht gesehen. Sie zog abrupt die Decke über sich, und schon die Bewegung war ein einziger Vorwurf voller Abscheu.
»Ich lasse mich nicht zur Schau stellen«, sagte sie, vor Ekel bebend. Er verstand es nicht und wollte es ihr erklären.
»Sag nichts. Und jetzt geh.«
Und so ging er. Mit ein wenig Glück wäre ihm diese Nacht der Erniedrigung erspart geblieben, hätte er vielleicht ein wenig Schlaf gefunden, hätte sie einfach weitergeschlafen, denn dann wäre in vielerlei Hinsicht alles gut gewesen.
Schließlich schlief er ein, getragen vom sanften Klang der kleinen Glocken, die in Chartres jede Viertelstunde anschlugen. Um sechs Uhr wurde er von Vague Henri geweckt. Und plötzlich blieb ihm keine Zeit mehr, an etwas anderes zu denken als nur an Krieg
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