Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)
Selbstwertgefühl und überhaupt alles außer dem Verlangen nach Gott auszulöschen vermocht hätte. Eine lange Pause trat ein, während der von Gott Erwählte auf den Jungen blickte, der vor ihm stand und dem Felsen Gottes seine Seele offenbarte.
»In wessen Namen trittst du vor den Gesalbten des Einen…«
»Der bist du nicht«, unterbrach Cale den Papst in sachlichem Ton. Ringsum schnappten die Mönche nach Luft. Das majestätische Gesicht des Mannes auf dem Thron verlor einiges an Erhabenheit, als hätte ein Kind auf dem Jahrmarkt in Memphis die Luft aus einem Ballon entweichen lassen.
»Was meinst du damit?«
»Du bist nicht Er.«
»Wer ist es dann?« Auch die Stimme des Papstes klang jetzt viel weniger würdevoll– eher wie die eines quengelnden Kindes, das sich über irgendeinen Tadel ärgerte.
Cale starrte unverschämt in die Augen des falschen Papstes, hob die rechte Hand und deutete, ohne hinzusehen, auf einen gebrechlichen, alten Mann, der ungefähr in der Mitte der vierzig Erlösermönche zur Rechten des Throns stand. Ein erstauntes Raunen lief durch die Versammlung, das Cale mit großer Befriedigung vernahm. Langsam und bedeutungsvoll wandte er sich zu dem Alten um. Er neigte den Kopf; der Erlösermönch an seiner Seite lud ihn mit einer Handbewegung ein, näher zu treten. Cale trat so nahe vor den echten Papst, dass er ihn fast berühren konnte. Der Heilige Vater schaute ihn an und lächelte abwesend. Dann hielt er ihm die Hand zum Kuss hin.
»Kommst du von weither?«
SIEBZEHNTES KAPITEL
C
ale hatte Bosco nur selten in guter Laune gesehen, aber als sie nach der Audienz wieder in ihrem Quartier ankamen, platzte sein alter Meister fast vor Genugtuung.
»Ha! Wie hast du das nur erraten, dass dieser pompöse Narr Waller den Papst spielte? Er machte seine Sache wirklich sehr gut.«
»Das waren die Schuhe«, sagte Cale, den Boscos außergewöhnliche Jovialität und Bewunderung ein wenig irritierten. Bosco brauchte ein paar Sekunden, doch dann fiel bei ihm der Groschen. Sein Gesicht leuchtete in noch größerer Freude auf.
»Wunderbar! Einfach wunderbar!«
»Schuhe? Was meinst du damit?«, fragte Henri vom anderen Ende des Raums.
Cale fiel die Antwort nicht leicht, schon deshalb nicht, weil es ihm zu sehr zur Gewohnheit geworden war, Bosco gegenüber Henri nur immer als »der alte Scheißbeutel Bosco« zu bezeichnen.
»Ich erinnere mich, dass mir der alte… dass mir Bruder Bosco mal von den Schuhen des Papstes erzählte, als ich noch klein war. Dass die Schuhe aus roter Seide seien und nur für den Papst gemacht würden und dass niemand außer dem Stellvertreter des Gehenkten Erlösers Schuhe in dieser Farbe oder überhaupt aus Seide tragen dürfe. Keine Ahnung, warum mir das heute wieder einfiel, denn als ich in die Kapelle kam, fielen mir die Schuhe sofort auf. Alle anderen trugen schwarze Lederschuhe. Sie hätten ihm genauso gut ein Schild um den Hals hängen können.«
»Unsinn«, sagte Bosco fröhlich. »Noch nie habe ich bei etwas die Hand Gottes so deutlich gesehen. Du wurdest von Ihm inspiriert.«
Allerdings muss doch sehr bezweifelt werden, ob diese Scharade entscheidend dazu beitrug, dass Cale den Oberbefehl über die Achte Armee übertragen bekam. Inzwischen standen an vielen Straßenecken von Chartres Prediger, die Cale als die Verkörperung des Zorns Gottes priesen, und nur einige von ihnen waren gehorsame Gefolgsleute von Bosco. In der gesamten Geschichte finden wir jedenfalls keinen Hinweis, dass es jemals Männer gegeben hat, die für einen Messias reifer waren als die Erlösermönche zu diesem Zeitpunkt.
Die Berichte über die unerklärliche Fehlentscheidung der Lakonier, die Stellungen auf den Golanhöhen anzugreifen, waren längst in Chartres angekommen, aber der designierte Chef der Achten Erlöserarmee dachte weder über die lakonischen Söldner nach, noch brütete er über irgendwelchen genialen Plänen für einen Angriff. Vielmehr weinte dieser weichherzige Junge hinter seiner verflossenen Liebe her. Seine Tränen waren jedoch nicht, wie es die Konventionen populärer Romanzen erfordert hätten, Tränen des Kummers um die verlorene Liebe, auch wenn der Kummer in dem großen wirren Gefühlssalat, den er für Arbell Schwanenhals empfand, sicherlich auch eine Rolle spielte. Nein– es waren vor allem Tränen des Zorns und der Erniedrigung, vor allem der Erniedrigung, die sich auf eine ganz bestimmte Gegebenheit bezog, an die er nur höchst ungern dachte, an die er
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