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Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)

Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)

Titel: Die letzten Gerechten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Hoffman
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Erlösermönchs krachen, das mit einem grauenhaften Knacken brach.
    Die Statue zeigte den Augenblick, in dem der sündenfreie Scharfrichter einen weiteren Stein hoch über den Kopf hob, mit der Absicht, auch diesen auf den sich vor Schmerzen windenden Heiligen Joseph zu werfen. Cale war daran gewöhnt, die bemalten Statuen anderer grauenhafter Martyrien zu sehen– primitive, mit einfachsten Farben bemalte, grobe oder nur halbwegs gekonnt geschnitzte Statuen, die man zu Tausenden produziert und in jeder Erlöserkirche zum Nutzen und Frommen der Gläubigen aufgestellt hatte. Etwas Ähnliches wie die Statuen von Chartres jedoch, und davon gab es sehr viele, hatte er noch nie gesehen. Sie waren realer als die Wirklichkeit, und die Schnitzerei oder Steinhauerarbeit waren nicht nur sehr kunstfertig gestaltet, sondern auch voller Leben. Die Hände des Mannes, der den Stein warf, waren nicht nur schön und genau ausgeführt, sondern zeugten auch von großer Beobachtungsgabe: Es waren die Hände eines Arbeiters. An fast jedem Finger waren kleine, gerade erst verheilende Schnitte zu sehen, und mit einer Ausnahme konnte man unter allen Fingernägeln Schmutzränder erkennen. Sein Gesichtsausdruck war nicht einfach nur von Bösartigkeit verzerrt, sondern zeigte auch die Schadenfreude, die er bei dieser Grausamkeit empfand, wobei unter diesem bewegten Mienenspiel sogar noch ein wenig Verzweiflung zu erkennen war. Seine Zähne, die aus feinstem Elfenbein bestanden, waren sorgfältig verfärbt worden, an zwei Zähnen zeigten sich Absplitterungen, ein Zahn schien völlig abgestorben zu sein. Und der Heilige Joseph hätte sogar ein steinernes Herz zum Erweichen gebracht: Das linke Bein war nicht einfach durch den Stein gebrochen, sondern buchstäblich zerschmettert worden, denn der Knochen war durch die Haut gedrungen, mit scharfen Bruchrändern, blutig, äußerst schmerzhaft… und das glitschig-glänzende Knochenmark, das aus der Bruchstelle quoll, war aus Glas. Josephs Mund war zu einem Schmerzensschrei aufgerissen– nicht heilige Ergebenheit in sein Schicksal, sondern nackte Furcht, die sich in jeder Hautfalte ausdrückte. Er hatte den Arm erhoben, um den nächsten Schlag abzuwehren, einen mageren Arm, den Arm eines alten Mannes mit Altersflecken, den man förmlich vor Schmerz und Angst zittern zu sehen glaubte. Aber Cales Blick wurde auch von dem Mann gebannt, der über dem Heiligen stand, und dessen Gesicht so hassverzerrt, die Augen so voll wilder Wut waren, dass ihm nur der Tod eines anderen Menschen Befriedigung bringen konnte.
    Cales Herz wiederum war von Verachtung erfüllt– Verachtung für den Mann, der diese ungewöhnliche Statue geschaffen hatte, um ihn, Cale, zu zwingen, Mitleid für einen Fanatiker im Todeskampf zu empfinden. Cales Betrachtung wurde durch ein leises Hüsteln unterbrochen, das von der Tür zu kommen schien. Mit der üblichen Mischung von Ruhelosigkeit und Benommenheit, die er immer vor einem Kampf empfand, ging er zu dem Erlösermönch hinüber, der an der Tür auf ihn wartete.
    Und dann befand er sich plötzlich in einem Raum mit dem Papst. Der Raum war atemberaubend: Bemalte Fenster vom Boden bis zur Decke und ungewöhnliche Statuen, die religiöse Szenen zeigten, so wunderbar und so entsetzlich ausgeführt wie die im Vorraum.
    Fünfzig Schritt entfernt saß der Papst auf seinem Thron, gekleidet in goldene Gewänder, das Angesicht Gottes auf Erden, mächtig, erhaben, fern, weise, mit grauem Haar, das unter dem goldenen Pileolus, dem Scheitelkäppchen, hervorkam, den er immer trug. Zu beiden Seiten des Throns standen achtzig Erlösermönche, die in die Feiertagsgewänder der verschiedenen Sodalitäten gekleidet waren und heute eigens hierhergekommen waren, um Boscos überheblichen Akoluthen fertigzumachen. Hinter dem Thron hub ein Chor zu singen an, ein großartiger, zugleich aber Furcht einflößender Bassgesang, der so tief war, dass er durch Cales Eingeweide zu vibrieren schien, so, wie es Gant sich erhofft hatte. Cale wirkte denn auch wie ein Fünfzehnjähriger, als er durch den Raum auf den Thron zuging, bis er an einer vor den Thron gespannten Kordel ankam. Dort berührte ihn der Erlösermönch, der ihn begleitet hatte, mahnend am Arm, als wolle er ihn warnen, nicht über die dicke Kordel zu springen.
    Der große Choral hatte inzwischen seinen durch Mark und Bein gehenden Höhepunkt erreicht. Einen kurzen Augenblick lang füllte ein großartiger, fast himmlischer Ton den Raum, der jedes

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