Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)
darf.«
Und genau das war Cale vollkommen klar. Es war erstaunlich, dass sie nicht schon längst von selbst in Flammen aufgegangen war, so groß wie die Zahl ihrer aufrührerischen Taten war.
»Ich will dir ihre Vergehen noch einmal aufzählen«, fuhr Bosco fort. »Anbringen von schriftlichen Aufrufen an öffentlich zugänglichen Kirchentüren: Tod. Kritik am Papst: Tod. Nachsicht gegenüber Ketzern: Tod. Und sie äußerte sogar ihre eigene Meinung über die menschlichen Qualitäten des Gehenkten Erlösers: Tod. Und all das hat sie getan, obwohl sie eine Frau war: Auspeitschung. Und überdies hat sie all das in der Verkleidung als Mann getan, damit sie in der Nacht unbemerkt zu den Kirchentüren gelangen konnte: Tod.« Er deutete auf den Vollstreckungsbefehl. »Und nun sei so freundlich und unterschreib. Oder sei eben nicht so freundlich, aber unterschreib.«
»Warum braucht man dazu meine Unterschrift?«
»Weil der Papst grundsätzlich barmherzig ist, darf er keine Todesurteile unterzeichnen. Sie müssen deshalb stets vom Oberbefehlshaber des militärischen Flügels des Erlöserordens in Chartres unterzeichnet werden. Und seit heute Morgen bist du der Befehlshaber.«
»Als Oberbefehlshaber habe ich soeben beschlossen, noch darüber nachzudenken.«
»Das kannst du, nur leider ist es nicht ganz so einfach. Sobald du von hier weggehst, und das wird spätestens heute Nachmittag der Fall sein, wird der nächste hohe militärische Kleriker in der Stadt Kommandant der Garnison. Im konkreten Fall bin ich es. Und ich werde unterschreiben.«
»Dann ist die Sache doch geregelt.«
»Nein, ist sie nicht. Die Unterschrift eines Vollstreckungsbefehls ist eine hohe Ehre, genauso wie der Vollstreckung selbst beizuwohnen. Unterschreibst du nicht, wird das so ausgelegt, dass deine erste Handlung als direkt vom Papst ernannter Befehlshaber darin besteht, den einen wahren Glauben zu beleidigen. Eine Ungeheuerlichkeit. Man wird dich des Amtes entheben, und dann wirst du weder unter Menschen noch Tieren willkommen sein. Egal, was du machst: Sie ist so gut wie tot. Unterschreib.«
Cale starrte ihn an, trotzig, aber hilflos.
»Van Owen«, sagte er schließlich. »Nicht Ihr, sondern Van Owen ist der nächsthohe militärische Kleriker in der Stadt.«
»Stimmt«, sagte Bosco mit feinem Lächeln, »aber nur noch so lange, bis du den zweiten Vollstreckungsbefehl unterschrieben hast.«
Wer schon einmal zwei Hinrichtungen beobachtet hat, wird wissen, dass eine Hinrichtung wie die andere verläuft: die Menschenmenge, das Warten, die Ankunft, das Brüllen der Menge, die Schreie des Opfers, der lange oder kurze Tod, das Blut oder die Asche auf der Erde.
Es gehörte zu den Verhaltensweisen der Erlöser, dass sie sich gegenseitig äußerst unterwürfig und kriecherisch verhielten, während sie allen Menschen, die dem Orden nicht angehörten, verächtlich, missgünstig und voller Vorurteile begegneten. Gelegentlich errichteten sie zwar ein richtiges Terrorregime, etwa wenn es um angebliche Verwicklungen in antagonistische Verschwörungen ging oder sich ein Mönch an einem Klosterschüler vergriffen hatte, aber im Allgemeinen gingen sie mit den Sünden ihrer Mitbrüder mit größter Nachsicht um. Selbst bei der schwer wiegenden Angelegenheit mit einem Klosterschüler musste die Sache mitten im Akt selbst von einem Erlösermönch bezeugt werden, damit überhaupt Anklage erhoben werden konnte. Außerdem hatte eine falsche Anschuldigung– darunter verstand man eine zwar wahre, aber nicht erfolgreich durchgesetzte Anklage– für den Kläger grauenhafte Folgen. Die Erlöser konnten sich glücklich schätzen, dass solche Schmuddeligkeiten sehr selten vorkamen, was vor allem deshalb so war, weil nur die verzweifeltsten Opfer solche Probleme machten. Und selbst von denen bereuten es die meisten schon sehr bald.
Da also die Erlösermönche gewöhnlich ausgesprochen zurückhaltend waren, wenn es um Bestrafungen in den eigenen Reihen ging, war die Entscheidung, Van Owen für die Niederlage vor den Golanhöhen anzuklagen, ein Präzedenzfall. Man hatte Van Owen sogar wegen Verrats und nicht wegen Unfähigkeit anklagen müssen. Denn schließlich war es höchst unwahrscheinlich, dass ein General, der zuvor immer gut gekämpft hatte, seine Männer nun plötzlich dermaßen schlecht führen würde. Ganz offensichtlich hatte man es hier mit jenem Phänomen zu tun, mit dem schon oft große Niederlagen der Erlöser hatten erklärt werden müssen: »Die
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