Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)
gemeint sei nicht ein todbringender Vernichter aller Feinde des Gehenkten Erlösers, der vielleicht, oder auch nicht, das Ende aller Dinge herbeiführen würde, sondern eine Art Heiliger Kuchen aus siebzig Rosinen und Nüssen, welchen der Herr selbst geben würde, um alle Hungersnöte zu beenden, die länger als ein Jahr dauerten. Die Debatte über die Frage, ob denn die Prophezeiung einen düsteren Vernichter oder aber einen prächtigen Kuchen weissage, war im Grunde ziemlich überflüssig, wenn man bedenkt, dass der Erlöserglaube letztlich die Vernichtung ohnehin vorsah.
Boscos ungeheuerliche Forderung, Cale den Oberbefehl über die Achte Armee der Wras zu übertragen, stieß zunächst auf einhellige Ablehnung. In einem seiner kurzen klaren Augenblicke traf der Papst eine vorsichtigere und durchaus plausible Entscheidung: Er übertrug den Oberbefehl dem Erlösergeneral Princeps, dem Bezwinger der Materazzi, der sich bereits in Chartres aufhielt. Doch auf Boscos Befehl erklärte Princeps, er stünde bereits mit einem Bein im Grab, weil sich eine Gräte in seinem Hals festgehakt habe. Nicht zum ersten Mal bestätigte er in einem Schreiben, dass er bei seinem Sieg über die Materazzi einem Plan gefolgt sei, der von Cale gestammt habe, und appellierte in aller Bescheidenheit an den Papst, dem jungen Mann den Befehl über die Achte Armee zu übertragen. Um all jenen zuvorzukommen, die ihm die Sache mit seinem baldigen Ableben nicht abnehmen wollten, bat er den Papst, persönlich ein Sterbegebet für ihn zu sprechen. Das war eine Gotteslästerung, zu der er eigentlich nicht bereit gewesen war, doch Bosco hatte darauf bestanden, mit dem Argument, dass ohne diese Bitte ihre gemeinsamen Feinde ganz bestimmt riechen würden, dass daran etwas faul war.
Für Parsi und Gant war das ein Schlag, dessen Wirkung man kaum übertreiben kann. Sie hatten Princeps zwar nicht unbedingt als ihre letzte, aber doch als ihre größte Hoffnung angesehen.
»Wir müssen sofort handeln, sonst sind wir verloren«, stöhnte Parsi. »Uns bleibt keine Wahl– übertragen wir also dem Jungen den Oberbefehl.«
»Ich will verdammt sein, wenn ich unseren Glauben durch derart unbesonnenes Handeln gefährde. Wenn er tatsächlich ein Gottgesandter ist, will ich ein deutlicheres Zeichen dafür sehen als nur ein bisschen magischen Nebel oder das Wort dieses Schurken Bosco.« Aber angesichts des Eifers, den die Gläubigen entwickelten, die verzweifelt auf den Retter warteten, konnten sie es sich nicht leisten, nichts zu tun.
»Na gut«, sagte Gant schließlich. »Lassen wir den Hund mal einen Blick auf das Kaninchen werfen.«
Eine Stunde später trafen ein päpstlicher Bote und acht bewaffnete Gardisten vor Boscos Quartier ein und forderten Cale auf, sofort zu einer Audienz zu erscheinen. Bosco, von der plötzlichen Forderung beunruhigt, versuchte zwar, ihn zu begleiten, erhielt aber vom gleichermaßen beunruhigten Truppführer den Befehl zu bleiben, wo er war. »Ich habe den direkten Befehl bekommen, Bruder«, entschuldigte sich der Truppführer, »Euch fernzuhalten.«
Daher konnte Bosco Cale nicht mehr darüber ins Bild setzen, was er tun oder lassen und sagen oder nicht sagen solle. Er konnte Cale nur noch kurz zuwinken, als dieser zur Audienz aufbrach. Insgeheim war Bosco überzeugt, dass die ganze Sache eine Falle war.
Cale wurde in eine Nebenkammer geführt, wo man ihn bat zu warten. Gant und Parsi hofften, dass er sich durch die Warterei bis zur Audienz in größte Furcht hineinsteigern würde. An der hinteren Wand des Raumes, die von Kerzen erhellt und vom Rauch der vier Weihrauchbrenner geschwärzt war, stand die Statue von Sankt Joseph, dem ersten der Erlösermärtyrer, der gesteinigt worden war. Das Ereignis wurde auch wegen eines weiteren Zwischenfalls berühmt: Es war möglicherweise das letzte Mal, dass sich jemand aus Mitgefühl für die Sache der Erlöser einsetzte. Denn als sich die Männer der Stadt versammelten, um an der Hinrichtung des Heiligen Joseph wegen Entehrung des einen wahren Glaubens teilzunehmen, versuchte ein stadtbekannter Wanderprediger, die Hinrichtung zu verhindern, stellte sich vor das Volk und rief: »Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.« Zum Missfallen des mitleidigen Predigers und noch mehr des Heiligen Joseph lief ein Mann mit einem großen Stein in der Hand unbeeindruckt zu dem Heiligen hin, schrie selbstsicher: »Ich bin ohne Sünde!«, und ließ den Stein mit voller Wucht auf das Schienbein des
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