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Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)

Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)

Titel: Die letzten Gerechten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Hoffman
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wahrscheinlich war, dass etwas passieren würde.
    Es gab strenge Regeln für das Entzünden von Feuern durch die Wächter– nur bei Nacht, das Feuer musste klein gehalten werden, es musste in den Nischen von Felsen und Klippen entzündet werden, die das Licht schlucken würden, und es durfte nur mit trockenem Holz entfacht werden. Es fiel ihnen nicht leicht, in Kälte und Regen diese zwar vernünftigen, aber doch sehr lästigen Regeln zu befolgen. Außerdem war es höchst unwahrscheinlich, dass die Molosser mitten im Winter und auch noch bei Nacht einen Angriff durchführen würden. Denn im Dunkeln, im Regen oder über vereiste, steile Felsen zu tappen stellte eine recht sichere Methode dar, ums Leben zu kommen. Wenn man sich nun vorstellt, als Wächter in der Kälte oder Nässe dort liegen zu müssen, kann man verstehen, dass die Bereitschaft wuchs, ein kleines Risiko einzugehen, oder vielleicht nicht einmal das, und das Feuer ein wenig kräftiger brennen zu lassen und vielleicht dafür auch leicht feuchtes Holz zu verwenden, weil es dort oben ohnehin fast unmöglich war, Holz oder irgendetwas anderes trocken zu halten. Und so zeigte sich nun die Kette der Folgen von Kleists Anwesenheit im Stamm: Seine Talente hatten den Klephts die Möglichkeit verschafft, mehr Überfälle durchzuführen und sich somit mehr Wohlstand zu verschaffen. Somit konnten immer mehr Leute die Bestechungsgelder für den Wachdienst zahlen, wodurch dieser schlechter wurde, während zugleich die Notwendigkeit zu größerer Wachsamkeit zunahm, je reicher der Stamm wurde. Tatsächlich wurde also die Wachsamkeit nicht erhöht, sondern immer geringer und nachlässiger. Und wäre nicht Cales unbeabsichtigtes Heldentum gewesen, als er Riba rettete– mit allen katastrophalen Folgen, die dies nach sich zog–, dann wäre auch die Entscheidung der Wächter vollkommen rational gewesen, wenn sie das– hohe– Risiko einer Lungenentzündung gegen das– geringe– Risiko abwogen, von den Molossern mitten in der Nacht die Kehle durchgeschnitten zu bekommen. Aber sie hatten nicht mit den Erlösermönchen gerechnet. Warum denn auch? Doch so kam es eben– Kriegermönche kletterten über die vereisten Felsen von Mount How und Mount Usborne und töteten die Klephts im Widerschein ihrer unverzeihlich hoch lodernden Wachfeuer.
    Aber auch für die Bösesten geht das Glück einmal zur Neige, und nachdem sie der dritten Gruppe von Wachposten die Luftröhren aufgeschlitzt hatten, wurde der Überfall von einem Wachposten bemerkt, dem die Kälte trotz der größeren Feuer Schlaflosigkeit beschert hatte. Er starb zwar im Kampf, aber in dem darauf folgenden Durcheinander gelang einem der Klephts die Flucht nach Hause, wobei er unterwegs auch die übrigen Wachposten alarmierte. Bald kehrten auch weitere Posten ins Dorf zurück und brachten neue Informationen mit sich.
    Als immer mehr Einzelheiten bekannt wurden, dauerte es nicht lange, bis Kleist klar wurde, mit wem sie es zu tun hatten.
    »Vielleicht«, vermutete Suveri, »sind es Materazzi. Vor zwanzig Jahren kamen sie schon einmal und brannten ein halbes Dutzend Dörfer nieder.«
    »Es gibt keine Materazzi mehr.«
    »Offiziell vielleicht nicht. Aber bestimmt gibt es noch eine Menge ausgebildeter Soldaten, die sich als Söldner ein paar Groschen verdienen wollen.«
    »Es sind keine Materazzi, weder Söldner noch sonst irgendetwas«, beharrte Kleist.
    Dann erklärte er ihnen die Sache, woraufhin eine ganze Weile Schweigen herrschte.
    »Als damals die Materazzi kamen, hauten wir einfach ab und versteckten uns in den Bergen. Wir mussten sie nur aussitzen. Sie fackelten zwar unsere Dörfer ab, was schade war, aber sie konnten ja nicht ewig hierbleiben, und irgendwann gingen sie wieder.«
    Dagegen erhob sich heftiger Protest: Das Wohlstandswachstum der jüngsten Zeit hatte zu einem Bauboom geführt, denn keineswegs nur die Reichsten hatten sich neue Häuser gebaut, die ihren veränderten Lebensumständen besser entsprachen. Viele waren erst halb fertig, und es herrschte beträchtliche Abneigung gegen die Vorstellung, die Neubauten aufzugeben, die dann unvermeidlich zerstört würden. Der Streit dauerte einige Zeit.
    »Verdammt noch mal!«, rief Kleist, als er es nicht mehr aushalten konnte. »Sie kommen nicht hierher, um euch eine Lektion zu erteilen– euch ganz bestimmt nicht, denn es wird danach keiner von euch mehr übrig sein, der die Lektion lernen könnte. Und sie werden auch nicht ein paar Häuser niederbrennen,

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