Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)
sodass er fast eine halbe Stunde brauchte, bis er oben war und nun die große Kanzel mit ihrem weit überragenden Kragdach betreten konnte, die in den gewaltigen Raum der Sixtinischen Kapelle hinausragte, wie ein gieriges Tier, das jeden Augenblick auf die Menge der zu ihm aufblickenden Gesichter der Kongregation hinausspringen konnte, voller Erwartung, von dem neuen Leben und dem neuen Ziel zu hören. Sie wussten genug von dem, was nun kommen würde; schließlich waren sie seit Jahren auf den neuen Glauben eingeschworen worden. Sie wussten, dass Gott wieder einmal seine Geduld verloren hatte und dass sie, wo sie früher dem Regen und dem Wasser geopfert worden waren, nun dem Feuer und dem Schwert geopfert werden würden, von der Hand eines Jungen, der kein Junge war, sondern die Verkörperung des Zorns Gottes. Und dieses Mal würde es keine Arche geben, die ihnen Zuflucht bot. Zuerst würden die Antagonisten dahinwelken, dann alle anderen und schließlich auch der Erlöserglaube selbst. All dies würde nun durch Boscos Worte den versammelten Gläubigen zuteil, die mit kaum beherrschbarer Freude dem göttlichen Anstoß zur Vernichtung der höchsten seiner Schöpfungen entgegenblickten.
»Der Wind des Wandels bläst durch unsere Welt«, verkündete der neue Papst. »Nichts kann mehr die gesegnete Idee aufhalten, deren Zeit gekommen ist. Und deshalb müssen wir uns auch der Frauenfrage zuwenden.«
Durch die Menge der Priester und Mönche lief ein überraschtes, fast ängstliches Murmeln. Die Frauenfrage? Was für eine Frauenfrage? Und verständlicherweise lief sie auch in noch ängstlicherer Fassung durch die Reihe der Nonnen. Welche Frauenfrage?
Die Stimme eines Erlösermönchs klang immer ein klein wenig ölig, wenn er sich anschickte, gut über die Frauen zu sprechen, was keineswegs so selten vorkam, wie sich ein eher nachlässiger Glaubensanhänger vorstellen mochte. Die nun vor Angst zitternden Nonnen standen im Begriff, die volle Dosis dieser Ölung verpasst zu bekommen. Wenn du schon schmeicheln musst, solltest du die Schmeichelei dick mit einer Maurerkelle auftragen.
»Gesegnet die Frau, deren Worte erfreuen, aber nicht beeinflussen. Wie könnten wir auch die Stärke nicht achten, die in ihrem Gehorsam liegt? Wie könnten wir die Zähigkeit ihrer von Gott befohlenen Unterwerfung nicht bewundern, auch vor seinem Ebenbild, dem Manne? Erlöser unterscheiden sich von anderen durch den ungewöhnlichen Respekt, den sie dem weiblichen Geschlecht entgegenbringen, dem Geschlechte also, das die Mühen der Männer und der Priester durch ihren niemals ermüdenden Beitrag ergänzt und unterstützt. Aber die Worte der großen Äbtissin Kuhne stimmen heute mehr denn je, wenn sie sagt, dass Jungfräulichkeit die wahre Emanzipation und der einzig wahre Lebensstand der Frauen sei. In Erwartung des Lebens, das noch kommen wird, wird es in der Ehe für den gläubigen Erlöser kein Geben und Nehmen mehr geben. Von diesem Tage an werden Männer und Frauen jungfräulich bleiben. Ich habe die Tage bestimmt, an denen die ehelichen Pflichten zwischen Männern und Frauen nicht erfüllt werden dürfen, da sie doch am ehesten an die Vereinigung des Tierischen erinnern, das in uns allen ist. Alle Donnerstage im Gedenken an die Verhaftung des Gehenkten Erlösers– zweiundfünfzig Tage im Jahr. Alle Freitage im Gedenken des Todes des Gehenkten Erlösers– weitere zweiundfünfzig Tage. Alle Samstage zu Ehren der Jungfräulichen Mutter des Gehenkten Erlösers– zweiundfünfzig Tage. Alle Sonntage zu Ehren der Auferstehung– zweiundfünfzig Tage. Und alle Montage im Gedenken der verstorbenen Seelen– zweiundfünfzig Tage.«
Und nachdem Bosco ehelichen Geschlechtsverkehr an zweihundertsechzig der insgesamt dreihundertfünfundsechzig Tage des Jahres untersagt hatte, untersagte er auch noch physische Kontakte jedweder Art für verschiedene Zeiträume vor und nach einem halben Dutzend besonders geheiligter Feiertage.
Selbst Gil, keineswegs der langsamste Kopfrechner, brauchte mehrere Minuten, bis er errechnet hatte, dass ein Ehepaar im Laufe eines Jahres nur an fünf Tagen in der Kiste zur Sache kommen durfte.
»Glaubst du, das ist zu viel?«, fragte ein zutiefst besorgter Papst Bosco XVI . »Bis zum dritten Jahr wird das alles hinter uns liegen.«
»Mehr als genug«, antwortete Gil. »Aber woher sollen unsere Soldaten kommen?«
»Wir haben genug, um die Welt reinzuwaschen. Du und ich, wir müssen bereitstehen, um dafür zu sorgen,
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