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Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)

Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)

Titel: Die letzten Gerechten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Hoffman
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offenen Endes des U, das von einem niedrigen Hügel beherrscht wird. An diesem Hügel vorbei verläuft eine ungemein wichtige Straße, die den Fluss zweimal durchquert, sodass das U in zwei gleiche Hälften geteilt wird. Ein paar hundert Schritte von der Straße entfernt befindet sich ein großer Tafelberg. Zwischen dem Nordufer und dem Südufer besteht ein Niveauunterschied von rund zwanzig Fuß, was bedeutet, dass auf achtzig Meilen in beiden Richtungen ein Wagen nur auf dieser Straße die steilen Hänge hinauf gelangen konnte. Das gesamte Verteidigungsareal war ungefähr zweitausend Schritte breit. Cales Problem war so leicht zu beschreiben, wie es schwer zu lösen war. Es gab vielleicht noch fünfzig dieser vorgeschobenen Verteidigungsposten auf dem Veldt, aber nicht genügend Truppen, um sie durch konventionelle Methoden halten zu können. Wollte man die Beweglichkeit der Folktruppen einschränken sowie ihre Fähigkeit, sich vom Meer her Nachschub zu beschaffen, mussten sämtliche Stellungen fast ständig verteidigt werden. Im Moment überrannten die Folktruppen die Stellungen, wie es ihnen gerade in den Sinn kam, und nutzten sie dann für den Nachschub. Tauchten Erlösertruppen auf, verschwanden die Folksoldaten sofort und überrannten weitere Stellungen weiter entfernt an der Front.
    Cale brauchte fast acht Stunden, bis er das ganze U abgeschritten hatte.
    »Was meint Ihr dazu?«, fragte Gil, begierig auf Cales Meinung.
    »Schwierig«, war alles, was er zu hören bekam; dann fragte Cale, ob er mit den Überlebenden des letzten Angriffs sprechen könne. Es gab nur zwei Überlebende; dieser Krieg gehörte nicht zu der Sorte, bei der Kriegsgefangene gemacht wurden. Cale befragte sie fast den ganzen Abend lang.
    »Wie viel Mann stehen jetzt hier?«, fragte er Gil später.
    »Zweitausend.«
    »Wie viele könnt ihr hier unterbringen?«
    »Nicht mehr als zweihundert. Es gibt weder Truppen noch Nachschub für so viele.«
    »Schickt achtzehnhundert nach Hause.«
    Gil war zu gescheit, um nach dem Warum zu fragen. Die Zahl der Verteidiger durfte nicht zu groß sein, sonst würde die Stellung gar nicht erst angegriffen.
    »Was habt Ihr vor?«
    »Nichts«, antwortete Cale. »Wir marschieren weiter.«
    Cales Verhalten war schlicht ärgerlich, denn er ließ Gil im Ungewissen, als sie hinter den achtzehnhundert Soldaten her ritten, deren Rückzug Cale befohlen hatte. Und Cale hatte nichts unternommen, um die Stellung am Drift zu verstärken.
    Nach ungefähr fünf Meilen lenkte Cale sein Pferd seitwärts in eine andere Richtung. Der vor Wut schäumende Gil und die beiden Wärter waren gezwungen, ihm zu folgen. Bald darauf änderte Cale die Richtung erneut und ritt auf die kleine Anhöhe zu, die hinter dem Drift lag. Der Hügel war vermutlich weder nahe noch hoch genug, um die Folkspäher anzulocken; sie würden zuerst bessere, näher gelegene Ausblickspositionen aufsuchen. Cale stieg ab und gab seinen Begleitern ein Zeichen, ebenfalls abzusteigen. Dann machte er sich auf den Weg zum Scheitel des Hügels. Kurz davor warf er sich auf die Erde und kroch die letzten paar Yards hinauf. Gil, dessen Wut inzwischen der Erleichterung gewichen war, folgte ihm.
    »Was willst du hier?«, fragte Cale feindselig.
    »Ich tue nur, was mir Bruder Bosco aufgetragen hat, Meister.«
    Das stimmte vermutlich, also war es sinnlos, darüber zu streiten, was aber nicht bedeutete, dass Cale nicht darüber nachdachte. Er nahm eine Art Lederröhre aus seinem Knappsack, die an beiden Enden offen war, dann zwei runde Glasscheiben, die er in die beiden Enden der Röhre einsetzte und mit Schnüren befestigte. Das war das Teleskop, mit dem ihm Bosco den keineswegs perfekten Mond gezeigt hatte; es war gewissermaßen der eineiige Zwilling des Fernrohrs, das er Bruder Picarbo gestohlen hatte und das wiederum vom einen oder anderen Soldaten geklaut worden war, als sie ihn in der Einöde gefangen genommen hatten. Schien bereits eine Ewigkeit her zu sein.
    Je einsilbiger und heikler Cales Umgang mit Gil wurde, desto mehr verflüchtigte sich Gils frühere Wut darüber, dass er von diesem Knaben wie eine völlig unwichtige Person behandelt wurde. Verwirrt hatte er zunächst Cales veränderten Status vom entbehrlichen, unwichtigen Akoluthen zur Verkörperung des Zorns Gottes zur Kenntnis genommen, ein Sprung, der selbst für den folgsamsten aller Erlösermönche kaum begreifbar war. Aber je verächtlicher oder gleichgültiger Cale ihn behandelte, desto bereitwilliger

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