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Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)

Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)

Titel: Die letzten Gerechten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Hoffman
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ließ es Gil zu, dass sich seine weit über ein Jahrzehnt bestehende Bekanntschaft mit Cale in Ehrfurcht und sogar Vertrauen verwandelte. Gil war dazu geschaffen, andere zu verehren. Seit etwa acht Monaten wurde Cale immer stärker von einer düsteren inneren Unruhe beherrscht, die sich mit einer anscheinend alles umfassenden Gleichgültigkeit paarte. Dies übte eine geradezu magische Anziehungskraft auf einen Menschen wie Gil aus, der trotz seiner Intelligenz ohnehin für Zauberkraft anfällig war. Cale spürte die Veränderung zu Respekt, Verehrung und zu einer Furcht, die mehr als nur körperlich war, denn, wie er wusste, war Gil körperliche Furcht so gut wie unbekannt. Was Cale jedoch überraschte war die Wirkung, die diese wachsende Bewunderung in ihm hervorrief. Es war wie damals, als er und Henri die Schweineblasen aufgeblasen hatten, in denen in der Sakristei das Weihwasser aufbewahrt wurde, um sie in gotteslästerlicher Freude auf dem Boden auf und ab springen zu lassen. Dass er, Cale, nun vor eine Gruppe Männer treten und beobachten konnte, wie sie bei seinem Anblick förmlich schrumpften… ja, das hatte schon etwas für sich.
    Den Rest des Tages sprach Cale kaum ein Wort. Er erkundete die Umgebung und zeichnete eine Karte des Schlachtfelds in den Sand, wischte sie weg, zeichnete sie erneut und wischte auch diese wieder weg. Während der ganzen Zeit gab er sich große Mühe, den höchst neugierigen Gil die Skizzen von Gräben, Anhöhen, Ausblicken und Kampflinien nicht sehen oder gar verstehen zu lassen. Der Grund dafür war weniger, dass er seine Überlegungen geheim halten wollte, als vielmehr Gil zu ärgern. Aber obwohl sich Gil ärgerte, schien er doch zugleich noch mehr beeindruckt zu sein. Cale begann es zu genießen, gewissermaßen mit offenem Mund bestaunt zu werden, sogar so sehr, dass er völlig unnütze Zeichen einfügte und sich köstlich damit amüsierte, die Lagepläne immer komplexer werden zu lassen, bis Gil vor Bewunderung fast sprachlos wurde.
    Kurz vor Einbruch der Dunkelheit zog sich Cale vom Hügel zurück; wie ein Schatten schlich Gil hinter ihm her. Wie üblich teilte Cale jeweils vier Soldaten für die einzelnen Schichten der Nachtwache ein, doch dann kam ihm eine Idee. Er änderte die Einteilung– jetzt teilten sich jeweils drei Soldaten eine Schicht. Das war eine Anmaßung, und er spürte, dass dies ihre Ehrfurcht vor ihm noch verstärkte. Zutiefst zufrieden mit seiner List stieg er wieder auf den Hügel und machte es sich so bequem wie möglich. Bald schlief er ein und träumte von Arbell Schwanenhals. Unglaublich schön war sie, doch sie entkam ihm immer wieder, als er sie durch die langen Korridore des Palazzo verfolgte. Sie behandelte ihn wie einen lästigen Verehrer, den sie höflich– aber nicht allzu höflich– zurückwies, und nicht wie einen früher angebeteten Geliebten. Wenn er von ihr träumte, schien es oft, als habe er alle Wut und Gewalttätigkeit verloren, als würde er zu einem Bittsteller erniedrigt, der einfach nicht begreifen wollte, dass sie ihn nur verachtete. Er wurde von der unerhörten Hoffnung getrieben, dass er sie nur einmal dazu bringen müsse, stehen zu bleiben und mit ihm zu sprechen, dann würde sie ihm sicherlich erklären, dass ihr angeblicher Verrat an ihm nichts anderes als ein furchtbarer Fehler gewesen sei. Und dann würde alles wieder gut werden. Er wäre wieder glücklich. Aber im Traum wandte sie sich stets von ihm ab, als fände sie schon seine bloße Gegenwart unerträglich. Kurz vor Tagesanbruch wachte er auf. Er fühlte sich elend, voller Scham und Wut über seine eigene Schwäche.
    Schweigend aß und trank er; dann beobachtete er zusammen mit Gil, wie der Drift langsam ins Licht der Morgendämmerung trat. In der Mitte der U-förmigen Flussbiegung hatte er Schützengräben anlegen lassen, die nun voller Bogenschützen waren. Er hatte sie gegeneinander versetzt ausheben lassen, sodass die Pfeile nicht in gerader Linie nach unten abgeschossen werden konnten. Das Problem wurde ihm jetzt deutlicher als zuvor bewusst: Die rote Erde, die beim Ausheben der Gräben angefallen war, bildete einen scharfen Kontrast zum gelben Gras des Veldt, sodass die Gräben so deutlich als Ziele markiert waren wie die Ringe auf einer Zielscheibe. Aus dieser Entfernung schienen aber die fünfzig oder sechzig Bogenschützen gut verborgen zu sein, die sich in den Spalten und Nischen des Ufers versteckten; selbst mit seinem Fernglas konnte er sie nicht leicht

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