Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)
würde ihnen einen Vorwand liefern, die Kongregation für die Verbreitung des Reinen Glaubens hierher zu entsenden.«
»Gant ist der Pertius der Kongregation, richtig?«
»Der Peritus«, berichtigte ihn Bosco milde. »Das Pertius ist ein Stückchen Haut, das bei einer Beschneidung übrig bleibt.«
»Ach so.«
»Und was willst du damit sagen?«
»Würde Gant zusammen mit der Kongregation hierherkommen?«
»Nichts auf der Welt würde ihn davon abhalten, die Chance zu ergreifen, die Ordensburg unter seine Kontrolle zu bringen.«
»Könnte er Euch zum Glaubensakt machen?«
»Der Wunsch ist Vater des Gedankens, mein Lieber. Die Antwort lautet nein. Aber ich könnte vom Amt des Kämmerers entfernt werden, und damit würde ich meine ganze Macht verlieren.«
»Wenn ich auf dem Veldt siegreich bin, würde das genügen, um sie von der Entsendung abzuhalten?«
»Nein. Unsere Fehlschläge auf dem Veldt verletzen unseren Stolz und erfreuen die Antagonisten im Osten, aber die Folk sind sogar für sie ein Ärgernis. Ein Folk-Antagonist ist ein Fanatiker. Zwei Folk-Antagonisten bedeuten eine Glaubensspaltung. Selbst wenn sie uns auf dem Veldt besiegen und wir uns von dort zurückziehen, werden sie sofort miteinander zu streiten beginnen.«
Cale schwieg eine Weile. »Das ist kein Problem«, sagte er schließlich.
»Inwiefern?«
»Gebt ihnen, was sie wollen, Hookes Tod, dann haben sie keinen Vorwand mehr, um hierherzukommen.«
»Ich vermute«, sagte Bosco nach kurzem, verblüfftem Schweigen, »dass du nicht das meinst, was du sagst.«
»Nein. Ich will Hooke, und ich meine, dass ich ihn bekommen werde.«
Vor dem Raum wartete ein ängstlicher Model, der Cale als Diener und Bote zugeteilt worden war. Er hatte gehört, wie Boscos Stimme ein wenig lauter geworden war, offenbar ohne eine Antwort zu bekommen. War Cale in Schwierigkeiten? Doch als Cale schließlich herauskam, sprach er ein paar Minuten lang kein Wort, sondern schüttelte nur den Kopf, als müsse er einen dichten Nebel aus seinem Gehirn vertreiben.
»Soll ich Euch etwas zu essen bringen, Meister?«
Cale nickte. »Ja. Geh und hole mir noch ein Frühstück. Bring es auf mein Zimmer, und iss es für mich.«
»Mein Name ist Thomas Cale, und euer Schicksal liegt in meiner Hand.«
Als Cale vor den etwa zweihundert erbärmlichen Purgatoren stand, spürte er förmlich die unterschiedlichen Gefühlsregungen, die von ihnen ausgingen– darunter Zorn, Selbstmitleid, Furcht, Verzweiflung, Trauer, noch mehr Zorn, Hass, Liebe und so weiter. Er selbst empfand eine eigenartige Freude, vor so vielen Erlösern zu stehen, deren Schicksal, trotz seiner unbekümmert und pompös vorgetragenen Verkündigung, tatsächlich in seiner Hand lag. Wer konnte ihm das zum Vorwurf machen? Wem würde die Vorstellung nicht gefallen, diese Männer zu formen, als seien sie neugeborene Kinder? So viel Macht, ohne sich auch nur im Geringsten darum kümmern zu müssen, sich gerecht oder großzügig oder freundlich zu verhalten! Nach dem Kirchenrecht waren sie bereits tot, nur war eben die eigentliche Handlung der Exekution– eine Frage von nachrangiger technischer Bedeutung– noch nicht ausgeführt worden. Er konnte mit ihnen tun und lassen, was ihm beliebte. Für ihn war das kein Freibrief für Rache, sondern eine großartige Gelegenheit, seine Neugier zu befriedigen. Wie ist das, wenn man alles tun kann, was man will, und es würde immer richtig sein?
»Ich werde euch viele Dinge befehlen, die ihr noch nie getan habt. Wer nicht folgt, wird bestraft. Wer sich im Stillen verweigert, wird bestraft. Wer sich beschwert, wird bestraft. Wer versagt, wird bestraft. Wenn es mir gefällt, werde ich euch bestrafen. Es gibt nur eins, und nur diese eine Sache, für die es keine Strafe geben wird. Wer nicht lernt, selbstständig zu denken, wird hier auf diesen Platz zurückgebracht und sofort hingerichtet.«
Cale drehte sich um und verließ den Platz. Aus dem Augenwinkel bemerkte er einen der Abtrünnigen, den er von früher her kannte: Bruder Avery Humboldt. Auf Humboldts Gesicht spiegelten sich größte Abscheu, Verachtung und Hass. Als Cale an Humboldt vorbeiging, schlug er ihm mit aller Kraft auf den Kopf. Humboldt brach zusammen, als hätte man ihm sämtliche Muskeln durchgeschnitten, während Cale, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, weiterging. Tatsächlich jedoch hatte Cale den Ausdruck in Humboldts Gesicht falsch gedeutet. Der Mann wollte keineswegs Abscheu oder Verachtung oder Hass
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