Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)
ausdrücken, sondern litt unter einer Lähmung der Nerven seiner linken Gesichtshälfte. Sie war die Folge schwerer Schläge, die Humboldt durch zwei Wachsoldaten zugefügt worden waren. Die Wärter hatten zufällig mit angehört, wie Humboldt erklärte, die Maid vom Amselfeld habe nur in bester Absicht gehandelt und sollte nicht dem grausamen Glaubensakt ausgesetzt werden. Allerdings hatte Cale damit ein Zeichen gesetzt, das die übrigen Purgatoren kaum missverstehen konnten.
Eine Besonderheit der Erlösermönche war, dass sie zwar jede Menge phantastischer Vorstellungen unbesehen glaubten, aber wenig oder gar keine eigene Vorstellungskraft besaßen. Und dies traf sogar für einen so intelligenten Mann wie Bosco zu. Bosco war durchaus in der Lage, schon vor dem Frühstück an sieben unmögliche Ereignisse zu glauben, solange es dabei um Wunder, bizarre göttliche Strafen, die Heilkraft von Gallensteinen oder der Vorhäute von Märtyrern ging, aber Cales komplizierter Plan, wie man Guido Hooke aus dem Gefängnis holen könne, war für ihn ein einziges Rätsel.
»Ich kann ihn doch einfach von ein paar Wärtern aus der Zelle holen und wegschaffen lassen.«
»Aber was passiert, wenn dann eine Untersuchung durch die Kongregation für die Verbreitung des Glaubens angeordnet wird? Sie würden herausfinden, dass er vor seinem plötzlichen und mysteriösen Tod bei bester Gesundheit war und dass man ihn ohne ersichtlichen Grund und gegen alle Vorschriften und Bräuche aus seiner Zelle wegbrachte.«
Bosco, der in seiner Jugend ein leidenschaftlicher und traditionsgebundener Gläubiger gewesen war, hatte den Wert der Lüge erst sehr spät im Leben entdeckt. Nun erfand er plausible Lügen, aber was immer er sagte, wurde nicht weiter nachgeprüft, da er bereits ein mächtiger Mann war, als er begann, seine Mitbrüder zu täuschen und zu belügen. Zwar hatte er misstrauische Feinde, aber auch sie konnten nur ein bestimmtes Maß an Druck auf ihn ausüben und hatten nur sehr selten Gelegenheit, ihm peinliche Fragen zu stellen. Andererseits hatten Cale, Vague Henri und Kleist seit jeher andere Leute getäuscht, betrogen und belogen, Leute, mit denen sie alles anstellen konnten, wenn sie auch nur den leisesten Verdacht hegten, dass sie Falsches taten, dachten oder fühlten. Eine schuldbewusste Miene war der Beweis für eine Sünde, und wer eine Unschuldsmiene aufsetzte, bewies damit nur, dass er der widerlichen Sünde des Stolzes verfallen war. Die Folge war, dass sie alle zu ständigen Lügnern wurden. Wie sie laufen gelernt hatten, so hatten sie auch gelernt, die Unwahrheit zu sagen– zuerst noch unsicher, doch schon bald so fließend, dass sie gar nicht mehr darüber nachdenken mussten. Ein machtloser Lügner muss stets genau darauf achten, was er tut, um nicht entlarvt zu werden. Eine Lüge musste lebendig wirken und so sehr der Wahrheit gleichen, dass keiner der hundert Fehler, durch die sich schlechte Lügner selbst gegenüber den Dümmsten verraten, auch nur den Hauch einer Chance bekam. Regel Nummer eins lautete zum Beispiel, eine bestimmte Routine niemals zu ändern: Wird man erst einmal dabei ertappt, dass man eine bestimmte Gewohnheit auch nur geringfügig änderte, wird selbst der beschränkteste Inquisitor merken, dass etwas faul ist.
»Nur eine Erkrankung ist plausibel genug, um Hooke aus der Todeszelle zu holen. Wenn es dann zu einer kirchlichen Untersuchung kommt, bei der Ihr Stellung nehmen müsst, solltet Ihr eine gute Erklärung parat haben. Überlegt es Euch gründlich, damit es so wahr wie möglich wirkt– noch wahrer als die Wirklichkeit. Schickt ihm einen Arzt, dem Ihr vertrauen könnt– gibt es einen?«
»Ja.«
»Er soll ihm Riesenskabiose geben– das Mittel treibt ihm den Schweiß aus der Haut und lässt sein Gesicht puterrot anlaufen. Sagt dem Arzt, dass das Kraut hinter der Statue des Gehenkten Erlösers wächst.«
Bosco schwieg betroffen und beleidigt. Er erinnerte sich, dass er selbst Cale dreimal erlaubt hatte, im Bett zu bleiben, als sich bei dem Jungen genau diese Symptome gezeigt hatten.
»Was erwartet Ihr denn vom Zorn Gottes?«, spottete Cale. »Am nächsten Tag werden sich alle Wärter sorgen, dass das Gefängnisfieber ausgebrochen ist. Dann habt Ihr einen guten Grund, ihn aus der Zelle holen zu lassen. Niemand wird das für ungewöhnlich halten. Ihr habt mir doch immer erklärt, das sei eine Sünde.«
»Offenbar bin ich damit gescheitert. Wie ich es übrigens erhoffte, vergiss das
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