Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)
dicke Nonne mit Brusttuch sorgte für ihn.
In der Zelle war Cale nach wie vor damit beschäftigt, dem Toten einen Bart unter die Bandage zu schieben. Auf dem weißen Leinen sah der fuchsrote Bart fast orangefarben aus. Cale sang dabei leise vor sich hin.
Niemand mag uns– macht uns nichts aus.
Niemand mag uns– macht uns nichts aus.
Niemand mag uns– macht uns nichts aus.
Niemand mag uns– macht uns nichts aus.
»Sagt den Gefängniswärtern, sie sollen die Purgatoren vorwarnen, dass sie in andere Räume verlegt werden. Alle müssen im Fort für vierundzwanzig Stunden eingeschlossen werden. Die Purgatoren und die Wärter sind die Einzigen, die Hooke aus der Nähe zu sehen bekommen haben. Bringt sie alle zur postmortalen Hinrichtung, aber haltet sie von ihm fern, weil sie sich sonst mit dem Fieber anstecken könnten. Und dann bringen wir die Verbrennung möglichst schnell hinter uns.«
»Warum können wir ihn nicht auf der großen Plattform verbrennen?«, fragte Gil.
»Dann hätten wir noch mehr Zuschauer. Es ist viel zu riskant, es vor so vielen Leuten zu tun«, sagte Cale.
»Cale hat Recht. Die Leute werden nur das sehen, was sie zu sehen erwartet haben. Bestimmt wird auch die Kongregation von uns erwarten, dass wir die Exekution eines so berüchtigten Ketzers in aller Öffentlichkeit durchführen. Also müssen wir ihnen geben, was sie wollen.«
Wieder mal zu vorlaut gewesen, dachte Gil. Fast sofort bereute er seine Unfolgsamkeit und seinen Stolz. Jetzt würde er wieder stundenlang beten müssen, gefolgt von mindestens zehn Minuten mit dem Bußgürtel. Und vielleicht noch von einer halben Stunde Kasteiung. Warum hatte er sich nicht einfach auf die vorlaute Zunge gebissen? Dann fiel ihm ein, dass er zur Strafe genau das ebenfalls tun müsse.
»Danke, Bruder«, sagte Bosco und entließ Gil. Nachdem sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, blickte Bosco Cale mit halb spöttischer, halb erwartungsvoller Miene an.
»Du wolltest mich etwas fragen?«
»Ja. Warum hat Picarbo das Mädchen seziert?«
»Ah. Höchst ungewöhnlich.« Bosco schloss einen kleinen Schrank auf, der neben seinem Schreibtisch stand, nahm einen gebundenen Papierstapel heraus und schob ihn auf dem Tisch zu Cale hinüber.
»In seiner Zelle wurde eine Unmenge Papiere gefunden. Ich glaube, es würde Monate dauern, sie alle zu lesen. Aber das hier ist wohl so etwas wie sein Testament, habe ich den Eindruck.«
»Also wusstet Ihr nichts davon?«
»Ich? Nein.«
»Wie war das möglich?«
»Du glaubst, ich lüge dich an?« Bosco schien echt überrascht zu sein. »Sicherlich war ich in der Vergangenheit verschiedentlich bereit, Euch die Wahrheit vorzuenthalten, Herr.« Das klang geradezu höhnisch, schien aber zugleich auch aufrichtig gemeint zu sein. »Ich kann mich jedoch nicht erinnern, dich jemals direkt belogen zu haben. Vermutlich hätte ich es getan, wäre es nötig gewesen. Aber jetzt lüge ich nicht.«
»Er hielt sich Frauen. Er hielt sich Frauen in Räumlichkeiten, die fast einem kleinen Palast entsprachen. Wie ist so etwas möglich?«
»Dir müssen alle Erlösermönche gleich erscheinen. Als ob alle allmächtig seien. Aber das ist eben nur gegenüber den Akoluthen der Fall, nicht untereinander. Im Orden gibt es viele Abteilungen und Rangordnungen. Es gibt Grenzlinien zu Gebieten, die nicht überschritten werden können. Picarbo herrschte in solchen Gebieten. Kein Tyrann hatte mehr Macht. Man stellte sich gegenseitig keine Fragen. Wir leben in einer Welt, in der alle über alles gemeinsam Bescheid wissen. Erlangt jemand in einer solchen Welt die Macht über das Wissen, und sei es nur ein bestimmtes Wissen, so wird dieser Erlösermönch diese Macht so eifersüchtig hüten, wie es ihm nur möglich ist. Es ist mit einem Schlüsselbund vergleichbar, ein Beweis für seinen Wert vor Gott.«
»Aber andere mussten darüber doch Bescheid gewusst haben!«
»So war es auch. Zwölf wussten Bescheid und lasen die Dokumente in seinen Räumen.«
»Was geschah mit ihnen?«
»Nun gehst du wirklich zu weit.«
»Die Nonnen?«
»Ein Erlösermönch kann jederzeit ersetzt werden; wer auf gottgefällige Weise kochen und Kutten bügeln kann, ist nicht so leicht zu ersetzen. Außerdem wussten sie über Picarbos Absichten nicht wirklich Bescheid. In theologischer Hinsicht wird seit Langem eine umfassende Debatte über die Frage geführt, ob Frauen Seelen haben oder nicht. Ich neige zu der Ansicht, dass dies nicht so ist. In diesem Fall wären sie
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