Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)
oder vor allem für einen so harten jungen Mann. Und noch verwirrter, bekümmerter und nachdenklicher wurde er, als sie plötzlich in Tränen ausbrach.
Mit unendlicher Vorsicht hob er das inzwischen eingeschlafene Mädchen von seinem ebenfalls eingeschlafenen Arm, stand auf und bereitete eine Art Frühstück vor. Hungrig, wie er war, aß er seinen Teil sofort und wartete ungeduldig darauf, dass Daisy aufwachte. So dringend wollte er mit ihr sprechen, dass er sie sogar wach zu rütteln versuchte. Aber Daisy verstand sich auch auf das Schlafen. Gereizt und ein wenig verärgert, dass sie einfach durch diesen großartigen Augenblick im Leben schnarchte, aß er schließlich auch ihren Teil des Frühstücks.
»Wo ist mein Essen?«, fragte sie leise, als er gerade den Teller sauber leckte.
»Ich mache dir sofort dein Frühstück«, sagte er, und seine Gereiztheit verflog auf der Stelle, als er sie lächeln sah. Das Wasser kochte bereits, und zwanzig Minuten später verschlang sie gierig Bohnen und Reis, die aus Lord Dunbars Proviant stammten.
»Was hattest du eigentlich hier draußen ganz allein zu suchen?«, wollte er wissen.
»Ging nur ein wenig spazieren.«
»Hier draußen– im Wald?«
»Ergibt nicht viel Sinn, irgendwo herumzulaufen, wo man schon mal war.«
»Du bist zu jung.«
»Ich bin älter als du.«
»Aber ich kann auf mich selbst aufpassen.«
»Ich auch.« Verlegen betrachteten sie einander. »Normalerweise. Dieses Mal war ich zu unbekümmert und wurde erwischt. Mein Fehler.«
Jetzt wurde er wütend. »Wieso denn? Sie haben es dir doch angetan!«
»Das habe ich doch gar nicht gemeint. Aber wenn du einer Bande von Verbrechern und Schlägern ein Pferd klauen willst, musst du eben mit dem Schlimmsten rechnen. Außerdem«, sagte sie, »haben sie dich nicht umgebracht, und dafür bin ich dankbar.«
Darauf wusste er keine Antwort.
Sie lächelte. »Also werde ich sie vielleicht doch nicht von hinten erdolchen.«
»Woher kommst du eigentlich?«
»Von den Quantocks.«
»Nie gehört.«
»Ein Gebirge. Ungefähr drei Tagesmärsche von hier entfernt. Ich will nach Hause. Komm mit mir.«
»In Ordnung.«
Die Antwort war ihm ohne das geringste Zögern entfahren. Er bedauerte sie sofort, aber nur, weil es ihm seltsam vorkam, mit ihr nach Hause zu gehen. Er fühlte sich, als habe eine andere Person von ihm Besitz ergriffen, die jeden Augenblick etwas sehr Dummes sagen oder tun konnte.
»Hast du eine Familie?«
»Natürlich, hat doch jeder«, sagte sie, doch dann bedauerte sie es. »Tut mir leid.«
»Braucht dir nicht leidzutun. Deine Familie hätte nicht zulassen dürfen, dass du davonläufst.«
»Warum nicht?«
»Zu gefährlich.«
»Aber du bist doch derjenige, der loslaufen und Leute umbringen wollte.«
»Ich wollte nur deine Ehre rächen«, sagte er.
Sie lachte. »Mein Clan sind die Klephts, und die halten davon rein gar nichts. Wir sind sehr neugierig, aber nicht sehr ehrenhaft.«
»Du machst dich über mich lustig.«
»Nein, tue ich nicht, wirklich nicht. Achtung, Ehre, Ehrlichkeit– wir glauben nicht daran. Alle Stämme in unserer Nachbarschaft glauben daran, und sie streiten sich ständig um ihre Ehre hier und ihre Ehre dort. Für ihre Ehre töten sie einander, und dafür töten sie auch ihre Frauen und Töchter. Wäre ich eine Deccan, würden sie mich erdrosseln, wenn sie herausfänden, dass ich vergewaltigt wurde.« Sie reckte den Mittelfinger in die Luft. »Das denke ich über die Ehre.« Als sie sah, wie schockiert Kleist war, oder vielleicht war er auch eher verblüfft, brach sie in helles Gelächter aus. »Die Deccan sind total blöd und weniger neugierig als eine Kuh. Ihr Lieblingsspruch ist: ›Neugier kostet die Katze alle sieben Leben‹. Wir Klephts sind ganz anders. Mein Onkel Adam fuhr mal mit dem Kanu fünf volle Tage lang den Rhein hinunter, bloß weil er irgendwo gehört hatte, dass in Florenz eine Hure lebte, deren Genitalien seltsam geformt waren. Ich selber bin auch berühmt, weil ich einem Huhn beigebracht habe rückwärtszulaufen.«
»Warum hast du das getan?«
Sie lachte fröhlich auf. »Weil ein Sprichwort der Klephts lautet: ›Du kannst einem Huhn nicht beibringen rückwärtszulaufen.«
ACHTES KAPITEL
Manifest des Erlösermönchs Picarbo
Es ist offenkundig und erheischt kaum eine große Disputation, dass unsere Vorfahren einem Irrtum unterlagen. Dies zu sagen ist kein leichtes Unterfangen, da es um gar berühmte Männer geht, denen Lob und ehrendes Gedenken
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