Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)
für sich selbst nicht vollständig verantwortlich.«
»Und die Mädchen?«
»Ah, ja, die Mädchen. Die Antwort lautet, dass es darauf keine Antwort gibt. Weil die Schwestern seit jeher vollständig isoliert gehalten wurden, ist es auch erstaunlich leicht, die Existenz der jungen Frauen geheim zu halten. Picarbo jedenfalls fiel es offenbar leicht. Aber jetzt muss ich mich um andere Dinge kümmern. Nimm dir ruhig Zeit.«
Damit ließ er Cale allein. Cale setzte sich an den Tisch und begann zu lesen– ein Manifest, das sein Leben verändert und ein ganzes Reich ruiniert hatte.
SIEBTES KAPITEL
E
s dämmerte; die Berghänflinge trillerten in den Bäumen. Die wunderbaren Arien und Chöre, die sie vor Sonnenuntergang hören ließen, wurden allerdings durch einen abscheulichen Lärm übertönt, der so klang, als lieferten sich irgendwo in den Ästen zwei Männer mit verstimmten Pfeifen einen erbitterten Wettkampf.
Trotz des Lärms schlief das Mädchen tief in seinen Armen. Kleist hatte im selben Schlafsaal mit hunderten Jungen geschlafen, und alle waren ihm im Schlaf sogar noch hässlicher vorgekommen als im wachen Zustand. Bei Daisy war es anders– im Schlaf sah sie schön aus, was nicht ganz zutraf, wenn sie wach war. Ein zutiefst zufriedenes Gefühl durchfloss ihn, als er sie betrachtete, wie das Gefühl in seiner Brust nach einem richtig großen Schluck Weinbrand oder Gin.
Frauen gegenüber empfand er sowohl Ehrfurcht als auch Misstrauen. Welchem Mann ergeht es schon anders? Doch selbst die Tatsache, dass er rein gar nichts über Frauen wusste, hätte bis vor Kurzem nicht ausgereicht, um seinen Mangel an Verständnis zu erklären– denn er hatte keinerlei Verständnis für Frauen. Inzwischen verfügte er zwar über gewisse Erfahrungen, aber auch diese waren bruchstückhaft und außerdem sehr spezifisch. Da war zum einen Riba, das Mädchen, das Cale gerettet hatte. Riba war, ohne es selbst zu wollen, eine der Ursachen seines ganzen Leids mit den Frauen. Seine Feindseligkeit ihr gegenüber hatte ihren Grund darin, dass sie ziemlich oft, wenn auch völlig unabsichtlich, dazu beigetragen hatte, dass er beinahe ums Leben gekommen wäre. Seine zweite Erfahrung betraf die aristokratischen Schönheiten von Memphis, welche die Männer generell, und insbesondere Kleist, nicht einmal ihrer Verachtung für würdig befanden. Und dann waren da noch die Huren von Kitty-Town, deren Elend oder Kälte ihm schließlich jede Lust ausgetrieben hatten, dort überhaupt noch hingehen zu wollen.
Überwältigt vom plötzlichen Aufeinanderprallen dieser zärtlichen Gefühle mit der rohen Gewalt, die ihm in seiner Erziehung eingebläut worden war, hatte Kleist beschlossen, die beiden übrig gebliebenen Mitglieder der Dunbar-Bande zu verfolgen und zu töten. Als er ihr sein edles Bestreben erklärte, hatte er mehr oder weniger erwartet, dass sie vor Liebe und Bewunderung in Ohnmacht sinken würde, aber zu seiner völligen Überraschung und Demütigung schnaubte sie gereizt und befahl ihm, nicht so dumm zu sein.
»Würde das etwas ändern?«
»Nein«, gab er zögernd zu, »aber ich würde mich besser fühlen.«
»Ich auch«, nickte sie lächelnd. »Doch jeder Kampf ist ein Risiko. Du weißt vorher nie, was passiert. Dein Leben für diesen Abschaum zu riskieren, ist es wirklich, wirklich, wirklich nicht wert. Vielleicht laufen sie uns eines Tages betrunken über den Weg, und wenn sie dann einschlafen, erdolchen wir sie von hinten.« Sie lachte, als sie seinen verwirrten Blick sah. Wenn ihr von diesen Banditen nicht Übles zugefügt worden wäre, hätte er ihr wahrscheinlich zugestimmt. Doch so verliebte er sich nur noch mehr in sie. Um die Wahrheit zu sagen: Er hätte gern ein paar Tage Abstand gewonnen, um sich an diese neuen seltsamen Gefühle zu gewöhnen, aber Daisy war kein sehr geduldiges Mädchen. Im Vergleich zu ihr bewegten sich selbst Blitze langsam, und so lag sie auch schon auf ihm und verzehrte jeden Zoll seines Körpers, bevor er auch nur wusste, was da geschah oder was er tun sollte. Und als sie dann endlich mit gewaltigen Zuckungen zum Höhepunkt kam, war er überzeugt, dass sie gerade an einer Art Herzattacke starb. Nichts dergleichen hatte er während seiner elenden Ausflüge nach Kitty-Town erlebt. Als sie erschöpft neben ihm lag, war sie doch recht überrascht, dass sie dem höchst besorgten Kleist erklären musste, was sich abgespielt hatte. Das war eine Menge, womit er erst einmal klarkommen musste, sogar
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