Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)
dessen Ausläufer zweihundert Meilen weiter bis zu einem Pass abfielen, der Buford’s Gap genannt wurde. Der Pass war zwischen den Lakoniern und den neutralen Schweizern umstritten. Er stellte einen Schwachpunkt der natürlichen Verteidigungswälle der Erlöser östlich des Golan dar. Wenn sich die Lakonier mit den Antagonisten verbündet hatten, würden sie über den Pass angreifen. Links des Golan wurden Chartres und die dahinterliegenden riesigen Territorien des Erlöserordens von den Frontlinien geschützt– ein System von Schützengräben, die an manchen Stellen zehn Reihen tief gestaffelt waren und sich über fünfhundert Meilen bis zur nächsten natürlichen Verteidigung erstreckten: dem Weddell-Meer. In längst vergangenen Zeiten waren die Antagonisten hinter diesem System natürlicher Grenzen und künstlicher Abwehrlinien eingekesselt worden. Nur ein glücklicher Umstand wie die neu entdeckten Silbervorkommen in Argentum würde die Lakonier dazu bewegen können, ein ganzes Heer ins Feld zu schicken, da sie normalerweise niemals mehr als dreihundert Soldaten auf einmal vermieteten, um ihre wichtigste Ressource vor einer Katastrophe zu bewahren. Man würde sie auch bestechen müssen, damit sie einen Krieg mit den Schweizern um Buford’s Gap riskierten, da der Pass ansonsten für beide Seiten keine große strategische Bedeutung hatte.
Für die Lakonier erwies sich der Marsch zum Golan nicht als Sonntagsausflug. Die Winter dort waren meistens mild, sodass man durchaus über einen Feldzug zu so ungewöhnlicher Zeit nachdenken konnte, wenn genügend Geld geboten wurde. Aber dieses Mal erlebten sie einen eiskalten Marsch und den härtesten Winter seit Menschengedenken. Die Wege tief verschneit, das Wetter grausam, die Tage bitterkalt, die Nächte unerträglich… Bosco hatte Van Owen versichert, dass die Verzögerung durch dessen Aufenthalt in der Erlöserburg keine große Rolle spielen würde. Denn so schlimm das Wetter auch hier am Shotover Scarp sein mochte, für die Lakonier würde es noch viel schlimmer sein, wenn sie versuchten, durch den Machair zu marschieren. Obwohl es dort selten schneite, sorgten die starken Winde über der weiten, offenen Landschaft für äußerst hohe Schneeverwehungen. Die Lakonier konnten widrigere Umstände ertragen als andere Menschen, aber auch sie konnten nicht fliegen, deshalb steckten sie alsbald fest, zusammen mit ihrer Schwarzen Suppe und den elenden Heloten, die zu Dutzenden erfroren.
Als Van Owens Heereszug am Golan ankam, wurden Cale und Vague Henri vom General zu jeder unangenehmen oder sinnlosen Aufgabe abkommandiert, die er sich ausdenken konnte. Diese Aufgaben wären bei normalem Wetter nicht schwierig gewesen, doch bei den eiskalten Winden wurde selbst die einfachste Aufgabe zur Tortur. Van Owen hatte den Purgatoren außerdem die schlechtesten und kältesten Quartiere zugewiesen und ließ sie so karg wie möglich versorgen.
»Wer sind diese Männer?«, fragte er Cale, wobei er auf die Purgatoren deutete. »Sie gefallen mir nicht. Irgendetwas stimmt nicht mit ihnen.«
Bosco hatte behauptet, dass es ein Zeichen von kindlicher Unreife sei, wenn man jemandem etwas verrate, der einem nicht wohlgesinnt war. In diesem Fall müsse man lernen, den Mund zu halten, denn das könne den Unterschied zwischen Leben und Tod ausmachen. Doch obwohl Cale wusste, dass Bosco damit Recht hatte, konnte er sich nicht bremsen.
»Aus den krummen und knorrigen Stämmen der Menschheit, Bruder, kann man eben keine geraden Bretter schneiden.« Das war einer der berühmtesten Sprüche des Heiligen Barnabus, des Heiligen, dem in besseren Zeiten der mumifizierte Fuß gehört hatte. Und den Van Owen ganz besonders verehrte.
»Das soll wohl witzig sein?«
»Nein, Bruder, keineswegs.«
»Ich frage dich noch einmal: Wer sind diese Leute?«
Ein weiterer berühmter Ausspruch von Sankt Barnabus lautete: Eine Wahrheit, wird sie in übler Absicht gesprochen, wird von keiner Lüge der Welt übertroffen. Den Spruch hatte Cale in der Bibliothek in dem Buch Leben des lieben Heiligen Barnabus entdeckt, in dem er am Abend vor der Abreise aus der Ordensburg geblättert hatte. Der Satz mit der Wahrheit hatte Cale beeindruckt, denn Sankt Barnabus mochte damit etwas zum Ausdruck gebracht haben, das er als kleiner Junge wohl selbst über das Lügen hatte lernen müssen.
»Es gibt Männer, die gesündigt haben mögen, aber für ihre Fehler durch besondere Tapferkeit büßen wollen. Mehr, das habe ich beim
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