Die letzten Gerechten: Roman (German Edition)
Silbury Hill. Aus der Ferne wirkte es wie ein riesiger Haufen Muschelschalen, die von einer menschenähnlich geformten Meereskreatur stammen mochten. Sie brauchten keine fünf Minuten, bis sie das Tor des Schrottplatzes erreichten, wo zwei alte Männer neben einer Glutschale standen, um sich zu wärmen und einem halben Dutzend Arbeiter zuzuschauen, die einen Wagen mit Bruchstücken aus dem großen Rüstungshaufen beluden.
»Was geht hier vor sich?«
Der ältere Mann schaute zu Cale auf und überlegte, ob der jungendliche Kriegermönch eine unverschämte Antwort verdiente oder nicht. Er wählte einen mittleren Weg.
»Das ist der Schrotthaufen vom großen Sieg von euch Erlösern über die Mazzis. Wo sind sie geblieben, in all ihrer Pracht und Herrlichkeit?« Und fügte mit frömmelndem Gesichtsausdruck hinzu: »Zu Staub sind sie geworden.«
»Wohin werden die Rüstungen gebracht?«
»Sollen eingeschmolzen werden. Dort drüben, im großen Schmelzofen. Brennt aber im Moment nicht. Konnten nicht genug Kohle herbeischaffen, versteht Ihr, bei diesem Scheißwetter.«
Die Männer beeilten sich mit dem Beladen des Wagens, nicht aus Arbeitseifer, sondern auch, um sich warm zu halten. Einer von ihnen sang sogar dabei, ein gotteslästerliches Potpourri, zusammengestückelt aus einer der verehrtesten Hymnen der Erlöser und einem üblen Gassenhauer über Barnacle Bill.
Tod, Gericht, Himmel und höllische Leiden,
Sind die Vier Letzten Dinge, die uns noch bleiben.
Doch vorher will ich die Hure Maria besteigen
Und ihr das große Halleluja reingeigen.
Die anderen Arbeiter zitterten vor Kälte und achteten kaum auf seine Sangeskünste. Stück für Stück zerrten sie die Rüstungen auseinander, schnitten die Lederriemen ab, wenn sie nicht schon verrottet waren, und warfen die leichteren Rüstungsteile auf den Wagen. Panzerhandschuhe, Helme, Brustpanzer klapperten, Armstücke und Brayetten rasselten und klimperten, als sie auf den Wagen fielen. Allmählich füllte sich der Wagen. Einer der Männer erblickte Cale und Henri und brüllte: »Halt die Klappe, Cob!« Der Sänger brach sofort ab, seine gute Laune wich wie durch Zauber einer feindseligen Wachsamkeit.
Cale blieb stehen, während Henri sich dem Rüstungshaufen näherte.
»Kostet einen Dollar, wenn du den Haufen besichtigen willst, Kumpel«, sagte einer der Männer.
»Halt die Klappe«, sagte Vague Henri freundlich.
»Darfst hier nicht rumstehen«, sagte ein anderer Arbeiter.
»Jetzt kostet es schon zwei Dollar«, fügte der Sänger hinzu.
»Keine Angst«, erwiderte Henri. »Ich gebe euch gleich, was ihr verdient.«
Cale schlenderte ebenfalls herbei und reichte ihnen wortlos einen Dollar. Was war nur in Henri gefahren?
»Wir hatten zwei Dollar vereinbart.«
»Treibt es nicht zu weit«, warnte Cale die Männer.
Er drehte sich um; die Arbeiter kamen zu dem Schluss, dass es tatsächlich keine gute Idee wäre, es zu weit zu treiben. Henri betrachtete die Rüstungsteile am unteren Rand des Haufens und bückte sich, um einen halb zerschmetterten Helm aufzuheben. Oberhalb des Nasenschutzes prangte ein Emailleabzeichen, kaum größer als ein Männerdaumen– ein rot-weißes Karomuster mit drei blauen Sternen.
»Das ist Carmella Materazzis Wappen«, sagte er und wies mit dem Kopf auf einen weiteren Helm mit demselben Abzeichen, der trotz der blutigen Kruste noch ziemlich neu aussah. »Und das muss sein Sohn sein. Ich habe gehört, dass beide gefallen seien, aber niemand wusste es mit Sicherheit. Kleist stahl dem Jungen mal die Geldbörse und kassierte dann zehn Dollar Finderlohn, als er sie zurückbrachte, er behauptete einfach, sie in den Sally-Gärten gefunden zu haben.« Henri legte den Helm vorsichtig auf den Boden, trat noch näher an den Haufen und stellte einen Fuß darauf, als wollte er ihn besteigen. Dann zog er mit großem Hauruck einen weiteren Helm hervor, von dem eine schmutzige, stark ramponierte Helmfeder traurig herabhing, die im harten Winter fast alle Farbe verloren hatte. »Den Helm hier kenne ich irgendwie.« Er hielt den Helm vor Cale hin. »Gehörte diesem Arschgeiger Lascelles. Hat mir mal eine Ohrfeige gegeben, weil ich ihm im Weg gestanden habe.«
»Nun, das hier war ihm wohl eine Lehre.«
Henri lachte. »Da hast du Recht. Henris Fluch trifft jeden, der mich schlecht behandelt.« Er öffnete und schloss das Visier, wie er es bei den Puppenspielern auf dem Markt von Memphis gesehen hatte. »Wer hört jetzt noch deine Schimpftiraden,
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