Die Letzten ihrer Art 02 - Der letzte Ork
nie etwas vorgesungen. Sie wusste, dass sie nicht gut singen konnte, und die einzigen Lieder, die sie ganz auswendig wusste, waren die Lobeshymnen auf den Verwaltungsrichter aus ihrer Zeit im Waisenhaus.
Yorsh hatte für Erbrow gesungen, mit seiner großartigen Stimme und seinem unerschöpflichen Vorrat an Elfenliedern, die vom Wind und den Sternen erzählten.
Weil sie sich an den Text des Liedes nicht mehr erinnerte, stockte Robi. Erbrow machte ein finsteres Gesicht, aus Angst, dass sie ganz aufhören könnte. Seitdem ihr Vater tot war, hatte niemand mehr für sie gesungen.
Robi fing wieder an. Sie hörte der anderen Mutter zu und brachte die ganze Geschichte wieder zusammen. Die Hornisse trifft das Glühwürmchen und bittet es, ihr als Laterne zu dienen. Das Glühwürmchen weigert sich; um es zu überzeugen, sagt die Hornisse ihm, wie nett es ist und dass sie ihm den Nektar von sämtlichen Mandelblüten der Gegend bringen wird, und das Glühwürmchen, das wirklich ein bisschen dumm ist, fällt darauf herein; im Sommer, wenn die Glühwürmchen unterwegs sind, ist die Mandelblüte nämlich längst vorbei. Erbrow lachte wie toll. Sie fiel in Robis fröhlichen und falschen Gesang mit ein, dann schlief sie ein.
Robi blieb auf der Terrasse sitzen, das schlafende Kind im Arm.
Die Belagerung war durchbrochen. Die Stadt litt keinen Hunger mehr.
Die Orks waren zurückgeschlagen worden, und wenn auch nur für einen Tag.
Zwei lebende und gesunde Kinder waren zu Erbrow hinzugekommen und in ihnen lebten Yorsh und das Elfengeschlecht weiter.
Sie hatte sich an das Lied von der Hornisse erinnert.
Nach dem Duft zu urteilen, wurde in der Palastküche wieder eine Fledermaus gebraten, oder diesmal war es wohl tatsächlich ein Kaninchen. Nicht der Hofmeister des Königlichen Hauses würde die Zubereitung beaufsichtigen und Rosalba überließ sich den weichen Gefühlen von Wehmut und Trauer. Sie gestattete es sich, ebenfalls einzunicken, doch das Weinen eines der Neugeborenen weckte sie, und sie ging sich um ihre Kinder kümmern.
Kapitel 16
Der nächste Morgen war verhangen und die dicken Wolken am Himmel trugen eine Hoffnung auf Regen in sich.
Aurora trat an den Rand des Balkons, von wo die Steintreppe in den Hof hinunterführte. Dort unten beim Brunnen standen Rankstrail und Lisentrail. Weiter hinten unter einer efeuüberwachsenen Wand spielte Erbrow mit ihrem Wolfsjungen, laut und unbekümmert. Erbrow hatte die abrupten Bewegungen von kleinen Kindern, besaß dieselbe tollpatschige Anmut wie ihr Wolfsjunges.
Auch Aurora begann, mit dem kleinen Tier zu spielen, kraulte und streichelte es, stieß es von sich, um es in die Arme zu schließen, wenn es pfeilschnell zurückgesaust kam. Der kleine Wolf besaß Klauen und Reißzähne, sie waren zwar winzig, aber scharf, und er brachte Aurora am Handgelenk einen leichten Kratzer bei, der etwas blutete. Erbrow runzelte die Stirn.
»Aua«, sagte sie und wies dabei auf das Blutströpfchen, das aus der Wunde trat.
Aurora sah dem Mädchen in die Augen. Sie hatte dieselben blauen Augen wie ihr Vater, denselben Blick.
Sie hatte Yorsh nur ein einziges Mal in ihrem Leben gesehen, während er durch ihren Garten lief, die halbe Armee der Grafschaft auf den Fersen. Auch sie kannte die Prophezeiung, und sie hatte keinen Zweifel gehabt, dass der, dem sie da begegnete, der letzte und mächtigste der Elfen war. Sie hatte Angst bekommen, dass er sich in sie verlieben könnte.
Das wäre möglich gewesen, und war das erst einmal geschehen, wäre es endgültig gewesen, denn Elfen verlieben sich sehr jung und ein für alle Mal.
Aber es wäre auch eine Katastrophe gewesen, denn unerwiderte Liebe, obwohl der reinste aller Seelenschmerzen, zehrt die Seele doch aus und hätte dem letzten Spross aus dem Geschlecht der Elfen die Kraft geraubt. Auroras Herz war bereits vergeben; sie hatte sich also zugleich albern und gemein aufgeführt, indem sie die Tochter einer Hofdame zum Weinen brachte, ein Mädchen, das kleiner war als sie, und das einzige Wesen, das ab und zu den Weg in ihre eisige Einsamkeit fand. Zum Zeitpunkt ihres Zusammentreffens mit Yorsh fürchtete Aurora, sie könnte die Auserwählte aus der Prophezeiung sein. In Wirklichkeit aber war Yorsh der Erbin Arduins, die ihm bestimmt war, schon begegnet. Wie alle Elfen hatte er sich sehr jung verliebt, ein für alle Mal.
»Nein Aua«, sagte die Kleine und legte die Spitze des Zeigefingers auf die Wunde.
Aurora sah zu, wie die Wunde verheilte.
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