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Die letzten Monate der DDR: die Regierung de Maizière und ihr Weg zur deutschen Einheit

Die letzten Monate der DDR: die Regierung de Maizière und ihr Weg zur deutschen Einheit

Titel: Die letzten Monate der DDR: die Regierung de Maizière und ihr Weg zur deutschen Einheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ed Stuhler
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in diesem Pulk der Abgeordneten vor der Volkskammer. Er stieg aus, ich begrüßte ihn und sagte: ›Tut mir leid, Herr Botschafter, wir können jetzt nicht in mein Büro gehen, aber hier ist eine Balustrade, würde es Ihnen etwas ausmachen, sich mit mir hierhin zu setzen und hier das Gespräch zu führen?‹ Er hat es gemacht, und hinterher hat er überall erzählt, es sei der tollste Empfang gewesen, den er überhaupt irgend wo gehabt hat. Man muss sich da nicht verkrampfen, das sind auch nur ganz normale Menschen.«
      Von Außenstehenden ist oft gelobt worden, wie wohltuend sich die letzte DDR-Volksvertretung von arrivierten Parlamenten unterscheidet. Es sind nicht vornehmlich Juristen, die dort sitzen, sondern viele untypische Berufe, Tierärzte, Techniker, Naturwissenschaftler. Und viele Theologen. Das finden manche schon wieder komisch und befürchten, die Kirche wolle in die Politik hineinre

    6.7.1990, Berlin, Marx-Engels-Platz, Nach Bombendrohungen verlassen die Abgeordneten die 22. Volkskammersitzung. Links: Sabine Bergmann-Pohl
    gieren. Aber zu keiner Zeit ist zu erkennen, dass die Kirchenleute als Partei agieren.
      »Ich will sogar noch weitergehen«, sagt Peter-Michael Diestel. »Sie waren viel zu klug, um Politiker sein zu wollen oder werden zu wollen. Es gab nach meinem Dafürhalten noch nie eine derartig hohe Zusammensetzung von Professoren, von Akademikern, von Ärzten, wenig Juristen, sehr, sehr wenig Juristen. Deswegen bin ich nämlich Innenminister und Vizekanzler zugleich geworden, weil ich einer der wenigen Juristen in dieser Truppe war. Es waren sehr viele Menschen in der Volkskammer versammelt, die ein Lied hatten. Damit meine ich, die eine Sendung hatten, die etwas sagen wollten, etwas gestalten wollten und die nicht wegen dem schnöden Mammon oder weil sie sonst nichts anderes konnten, Abgeordnete, Staatssekretär und so weiter werden mussten.
      Und deswegen ist auch dieser Prozess so gut organisiert, schnell, mit dieser gigantischen Gesetzgebungsleistung über die Bühne gegangen. Wir mussten ja! Am 18. März war die erste freie Wahl, in etwa zehn, zwölf Tagen ist das Kabinett gebildet worden, und dann gab es eine gigantische Rechtsangleichung, Rechtsanpassung über die parlamentarische Arbeit dieser Volkskammer. Das heißt, wir mussten die unterschiedlichen Rechtsmoralordnungen, die Normkomplexe aneinander orientieren, um den Schritt zur deutschen Einheit dann auch gehen zu können. Das war eine gigantische Arbeit, die ist einmalig, und auf die können alle Beteiligten stolz sein, die da mitwirken durften.«
      »Es gab eine ganze Menge ausgeprägter Individualisten«, erzählt Höppner, »die sich auch an Fraktionsregeln nicht hielten. Man konnte gewärtig sein, dass ein Abgeordneter sich meldete, reden wollte und auch redete und sich nicht an seine Redezeiten hielt. Diese ganzen Absprachen, die ja das parlamentarische Geschäft heutzutage für einen Präsidenten absolut übersichtlich machen, der hat sein Manuskript und liest es ab, die gab es alle nicht. Man musste ständig darauf gefasst sein, dass direkt etwas passiert. Das brachte natürlich eine gewisse Lockerheit und Spontaneität und damit natürlich auch eine größere Authentizität. Ich glaube, zum Zuschauen war das viel interessanter als alle Parlamente heute.«
      »Man hat sich gezankt wie die Kinder im Sandkasten um die Schau fel«, sagt Familienministerin Christa Schmidt von der CDU. »Es war wirklich schlimm. Und das ging manchmal stundenlang. Trotzdem meine ich, dass dieses gemeinsame Vorgehen überwogen hat. Auf jeden Fall. Denn das wurde mir ganz schnell bewusst, als ich das erste Mal im Bundestag war. Dann kommt dazu, dass zum Beispiel in der Volkskammer sehr viel Disziplin herrschte. In den Anfängen ging kaum jemand raus, sondern die waren da, wenn was war. Das ist dann, nach bundesdeutschem Vorbild, erst nach und nach eingerissen, dass da jeder geht oder kommt, wann er will, das hatten wir am Anfang nicht. Da gab es wirklich Disziplin und Ordnung, und die Leute haben zugehört, wenn da vorn jemand etwas gesagt hat.«
      Bergmann-Pohl: »Es wurde ja alles übertragen. Ich habe immer gesagt, wir haben höhere Einschaltquoten als die Lindenstraße! Und das hatten wir auch. Die Leute hingen ja am Fernseher und haben geguckt, was da los ist. Ich bekam dann auch viele bitterböse Briefe, dass ich das Parlament nicht im Griff hätte. Aber man konnte die Abgeordneten nicht im Griff haben, die waren alle so

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