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Die letzten Tage von Hongkong

Die letzten Tage von Hongkong

Titel: Die letzten Tage von Hongkong Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Burdett
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den Tod eines großen Fürsten wünschte, führte er zuerst ein Experiment durch, um festzustellen, welcher seiner Mörder der beste sei. Er schickte einige von ihnen in einen nicht allzuweit entfernten Ort, wo sie einen bestimmten Mann umbringen sollten. Die Mörder gingen ohne zu murren und taten den Willen ihres Herrn. Wenn sie den Mann umgebracht hatten, kehrten sie an den Hof zurück – diejenigen, die entkommen waren, denn manche von ihnen waren gefangengenommen und getötet worden … So kam es, daß niemand, dessen Tod der Scheich vom Berg wünschte, seinem Schicksal entkam.
    Das war eine berühmte Passage, Chan hatte sie schon einmal in einem Film mit Mick Jagger gehört. Aber was bedeutete sie?
    Er hörte Geräusche aus Jennys und Jonathans Kabine nebenan. Jemand bewegte sich und stöhnte leise. Den meisten Leuten war nicht klar, daß Boote nicht wie Häuser gebaut wurden; die Wände bestanden manchmal nur aus millimeterdickem Fiberglas.
    Weiteres Stöhnen, dann das Geräusch sich wälzender Körper.
    »Kannst du nicht schlafen?« Das war Jennys Stimme.
    »Nein – ich bin eingenickt, aber jetzt bin ich wieder hellwach.«
    »Du grübelst.«
    »Nein.«
    Schweigen.
    »Ja.«
    »Willst du mit mir drüber reden?«
    »Du bist heute nacht verschwunden. Alle haben sich Gedanken darüber gemacht, wo du warst. Weißt du, das war ziemlich unhöflich.«
    »Ich war mit Charlie zusammen. Er ist doch auch verschwunden, nicht wahr?«
    »Er ist ein einfacher Polizist, und außerdem hat er ein Problem mit seiner Selbsteinschätzung. Du bist meine Frau – man erwartet gewisse Dinge von dir.«
    »Er hat ein Problem mit seiner Selbsteinschätzung? Nur weil er sich nicht bei den Leuten einschmeichelt?«
    »Ich mag’s nicht, wie du ihn anschaust. Das ist irgendwie seltsam.«
    »Willst du einen Streit anfangen? Was ist los mit dir? Bist du eifersüchtig auf meinen Bruder?«
    »Warum siehst du ihn immer so an?«
    »Wie?«
    »Als ob er ein Gott wäre oder so was.«
    »Wir sind uns als Kinder sehr nahegestanden und haben beide ein Trauma erlebt. Er hat mich vor dem Verrücktwerden bewahrt. Leute wie dieser Xian, bei dem du dich so einschleimst, haben unsere Mutter umgebracht.«
    Schweigen.
    »Ist das nicht bloß Proletariergewäsch?«
    »Was?«
    »Diese ganzen Geschichten mit der Blutrache. Na schön, du hast also eine traumatische Jugend erlebt, aber das Leben geht weiter. Das ist über zwanzig Jahre her.«
    »Du verstehst das nicht. Du besitzt einfach keine Tiefe.«
    »Tiefe? Die hat er also?«
    »Na schön, wenn du es unbedingt wissen willst, dann erzähle ich es dir eben. Nachdem wir erfahren haben, daß die Rotgardisten Mai-mai getötet hatten, bin ich durchgedreht. Er war das einzige, was ich hatte. Er hat seine ganze Zeit mir gewidmet, ist nicht in die Schule gegangen, hat mich nie allein gelassen, keine einzige Minute. Da passiert etwas, wenn man sich so nahekommt. Und wenn ich ihn ansehe, erinnere ich mich wieder an all das. Ich erinnere mich daran, daß irgendwann die Liebe über den Haß gesiegt hat. Aber ein Anwalt würde das nicht verstehen.«
    Langes Schweigen, dann Wongs Stimme, beharrlicher und niederträchtiger und glaubwürdiger, als wenn er charmant zu sein versuchte.
    »Wahrscheinlich mußt du mir sagen, ob er dich vergewaltigt hat oder nicht.«
    Jenny fragte entrüstet: »Was hast du gesagt?«
    »Wenn es tatsächlich passiert ist und du damals unter sechzehn warst – dann war’s eine Vergewaltigung. Selbst wenn du einverstanden warst. Das passiert oft in … tja, in ärmeren chinesischen Familien. Das ist das Verbrechen mit der größten Dunkelziffer in Südostasien. Ich habe am Anfang meiner Karriere ziemlich viel Familienrecht gemacht. Ich kenne mich bei solchen Sachen aus.«
    »Du bist wirklich pervers. Ich sage dir eins: Charlie wäre lieber gestorben, als die Situation auszunützen. Aber wenn er mich drum gebeten hätte, hätte ich alles gemacht. Wirklich alles. Und wahrscheinlich hätte ich’s toll gefunden. Bist du jetzt zufrieden?«
    »Beruhige dich. Daß ich so etwas frage, ist doch nur natürlich.«
    »Nein, das ist nicht natürlich, das ist so eine schmutzige Anwaltsfrage. Du sagst immer, du hast eine Künstlerseele, aber in Wirklichkeit bist du genauso geldgeil wie alle anderen in Hongkong.«
    »Bitte schrei nicht so. Vergessen wir die Sache, ja?«
    »Nein, ich werde das nicht vergessen. Vergewaltigung? Vielleicht bist ja du derjenige, der ein Problem hat.«
    Chan grinste die Wand an. Jenny

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