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Die letzten Tage von Hongkong

Die letzten Tage von Hongkong

Titel: Die letzten Tage von Hongkong Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Burdett
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sind. Wir könnten morgen um diese Zeit alle in einem anderen Land sein. Ich zum Beispiel war noch vor fünf Tagen in Peking.«
    Emily übersetzte auf Mandarin, hörte sich Xians Antwort an und lachte.
    »Mr. Xian sagt, daß es in Zukunft vielleicht keine nationalen Grenzen mehr gibt – aber China wird es immer geben. China war ganz am Anfang da, und es wird auch am Ende da sein. Bist du dir nicht wie ein Chinese vorgekommen, als du in Peking warst?«
    »Doch, doch, das war wie eine geistige Heimkehr.« Als Jonathan das höhnische Lächeln seiner Frau bemerkte, zögerte er. »Andererseits haben die Briten mich mindestens zur Hälfte kolonisiert. Wissen Sie, was mir von der Verbotenen Stadt am stärksten in Erinnerung geblieben ist? Die Tonbandaufnahme von Peter Ustinov.« Er sah Jenny an; sie wandte den Blick ab.
    »Wundervoll«, sagte Cuthbert, »die höre ich mir auch jedesmal an, wenn ich dort bin. Aber Ustinov ist Russe, das sollten Sie nicht vergessen.«
    Alle lachten, nur nicht Xian, der nichts verstanden hatte.
    Chan räusperte sich. »Ich war nur einmal in Peking, und da habe ich mich ganz stark wie ein Chinese gefühlt.«
    »Ja?« Emily klang überrascht.
    »Ja. Es war im Spätherbst. Die Bauern hatten gerade die Kohlköpfe vom Land in die Stadt gebracht. Wohin man auch sah am Platz des Himmlischen Friedens – Kohl. Überall in Wangfujing waren Barrikaden, ja Berge von dem zu sehen, was die Leute dort aiguo cai nennen – das Nationalgemüse. Es war der häßliche dunkelgrüne Kohl, den sie für die bittere Suppe verwenden. In der ganzen Stadt konnte man an Ständen bittere Suppe kaufen. Sogar die Reichen haben sie gegessen, vielleicht war das schick. Die Partei sagte, das solle die Leute an die bitteren Jahre vor dem Kommunismus erinnern. Aber seit der kommunistischen Revolution waren schon beinahe fünfzig Jahre vergangen, und fast alle mußten die bittere Suppe noch immer wegen des Vitamin-C-Gehalts essen. Ich habe natürlich davon probiert. Ich habe noch nie etwas so Bitteres geschmeckt. Und ich habe mich noch nie so sehr wie ein Chinese gefühlt.«
    Er sah, daß Emily mit dem Übersetzen aufgehört hatte und alle außer Cuthbert seinem Blick auswichen. Chan beugte sich vor und schaute Xian direkt in die Augen. Emily übersetzte wieder.
    »Sie sind schon lange in der Kommunistischen Partei?«
    »Ja.«
    »Und Sie haben sicher die höheren Kader mit Ihrem Wissen über marxistisch-leninistisches und maoistisches Gedankengut beeindruckt?«
    »Ja. Man mußte eine Menge darüber wissen.«
    »Aber jetzt liegt China wieder in den Händen der Götter?«
    »Haben Sie als junger Beamter der Royal Hong Kong Police Force den Eid auf die Königin von England abgelegt?«
    Chans Gesichtsmuskeln zuckten; er ignorierte die Frage. »Machen Sie sich Gedanken darüber, daß China immer korrupter wird?«
    Xian lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Wir lernen nur vom Kapitalismus. Die Korruption ist Stufe eins – das personalisierte Profitmotiv. Machen Sie sich denn Gedanken darüber, daß England und die Vereinigten Staaten früher ausgesprochen korrupt waren und es wahrscheinlich immer noch sind? Hongkong verdankt seine Existenz dem erzwungenen Verkauf von Opium an unser Volk. Mehr als die Hälfte des britischen Einkommens stammte im neunzehnten Jahrhundert aus dem Verkauf von Opium. Der Kapitalismus hat gewonnen; jetzt muß der Westen dafür bezahlen, daß er uns sein System aufgezwungen hat.« Xian beugte sich lächelnd vor. »Aber bitte zitieren Sie mich nicht.«
    Nur Cuthbert lachte.
     
    Chan saß unter einem schwarzsamtenen Himmel auf dem Schwimmdeck, an dem das Wasser leckte. Zwischen den Planken spiegelten sich die Sterne wider.
    Er wußte, daß Jenny sich zu ihm gesellen würde. Er hörte leises Tappen auf dem Deck über ihm, dann ein kurzes Zögern an der Stahlleiter.
    »Charlie?«
    Wie gut er sich noch an das Flüstern in der Nacht erinnerte.
    »Hier.«
    »Mein Gott, ist das dunkel hier unten.«
    »Soll ich dir helfen?«
    »Nein, alles in Ordnung.«
    Sie sprachen fast immer Englisch miteinander, nicht aus Achtung vor ihrem Vater, sondern aus Gehorsam ihrer Mutter gegenüber. In Mai-mais Zeit hatten sogar die einfachen Bauern gewußt, daß man Englisch können mußte, um es zu etwas zu bringen. Jetzt versuchten alle, Mandarin zu lernen.
    Sie setzte sich neben ihn, nahm seine Hand und wartete eine Weile, bevor sie etwas sagte.
    Er brauchte eine Zigarette. Also rutschte er ein wenig hin und her, um an die

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