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Die letzten Tage von Hongkong

Die letzten Tage von Hongkong

Titel: Die letzten Tage von Hongkong Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Burdett
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verwaschenen Tätowierungen befanden.
    »Wenn der alte Mann versucht, dir was zu tun – bringe ich ihn um.«
    Chan lachte.
    »Was ist daran so lustig?«
    »Ich glaube, du würdest das tatsächlich tun. Das wäre irgendwie ironisch, so gar nicht das Ende, mit dem er rechnet, da bin ich mir sicher.«
    Sie massierte seinen Oberarm mit den Tätowierungen. »Nur wir beide wissen, was da mal drauf gestanden ist.«
    Chan nahm einen Zug aus seiner Zigarette. »Dein Name auf Chinesisch.« Er stippte die Asche von seiner Zigarette zwischen die Planken. »Und der Tätowierer. Der weiß es auch.«
    Sie knuffte ihn in den Arm, als sie aufstand, und sagte: »Danke.«
    Dann warf sie ihm eine Kußhand zu und verschwand.

FÜNFUNDDREISSIG
    Irgendwann erhob sich Chan von der Schwimminsel. Er war so lange dort gesessen, daß ihm Hinterteil und Beine eingeschlafen waren, und mußte sich festhalten, bis die Blutzirkulation wieder einsetzte. Der Orion stand jetzt direkt über ihm am Himmel. Es war bereits nach Mitternacht. Die Sterne strahlten so hell, daß sie Schatten warfen. In Gedanken bei Moira zog er seine Hose aus und sprang nackt ins Meer.
    Er behielt die Augen auf, während er hinabtauchte. Das Wasser leuchtete grün; Fische schossen davon. Wie die Menschen schliefen sie in der Nacht. Angst konnte etwas Schönes sein. Er schwamm so lange nach unten, bis ihm die Lungen wehtaten, dann stieg er ganz langsam wieder nach oben. Als er mit dem Kopf die Wasseroberfläche durchstieß, knisterte es in seinen Ohren, als hätte er ein Blatt Papier zusammengeknüllt. Chan ließ sich auf dem Rücken treiben. Wie schön die Welt doch sein könnte ohne die inneren Dämonen.
    Als er die Schwimmleiter wieder hinaufkletterte, war er hellwach. Er duschte sich mit dem Schlauch ab, der auf dem Schwimmdeck lag, und kehrte mit nassem Körper in seine Kabine zurück, wo er sich mit einem frischen Handtuch abtrocknete und das Buch herausholte, das er mitgenommen hatte. Er legte sich aufs Bett. Dann las er den Klappentext.
    Er begleitete seinen Vater und seinen Onkel nach China. Dort arbeitete er als Diplomat und war in Diensten Kublai Khans. Trotz Piraterie, Schiffbrüchen und wilden Tieren bewegte sich Marco Polo in einer Welt des hochorganisierten Handels. Er beschrieb gern Edelsteine, Gewürze und Seiden …
    Das Buch übte eine merkwürdige Faszination auf ihn aus, fast wie die Bibel. Abgesehen von Moiras Aussage war es das einzige, was er in Händen hatte.
    Clares Nationalität war ein Problem. Wenn er sich Amerika auf der Karte anschaute, sah es unglaublich weit weg aus. Besonders New York schien irgendwo im Nichts zu liegen, so weit weg von Asien wie nur irgend möglich. Er kannte nicht viele Amerikaner, nur die Figuren aus den Filmen. Sie waren das genaue Gegenteil der Chinesen: Amerikaner hatten keinerlei Respekt vor dem Alter, sie waren promiskuitiv, glaubten unerschütterlich an die Selbstverwirklichung. Sie waren Individualisten und besaßen als solche großen Mut. Es gab etwas, das sie den Amerikanischen Traum nannten: zwei junge Männer auf Harley Davidsons mit jungen Frauen auf dem Sozius und Drogen, versteckt in den Batterien. Ein Film.
    Je mehr er darüber nachdachte, desto schwerer faßbar wurde Amerika. Das Land produzierte ein Übermaß an widersprüchlichen Bildern ohne Mitte: GIs mit riesigen Muskelpaketen, die im Vietnamkrieg schwere Waffen durch den Dschungel schleppten; die Ermordung von Präsident Kennedy. In der Kanalisation lebten Alligatoren; homosexuelle Filmstars machten merkwürdige Dinge mit Hamstern. Jemand hatte ihm einmal gesagt, daß all die negativen Dinge, die man über Amerika hörte, lediglich der Ausdruck seiner Freiheitsliebe sei.
    Ähnlich wichtig wie für die Briten die Fairneß, war für die Amerikaner ein anderes Leitprinzip: Jeder Amerikaner, egal, aus welchen Verhältnissen er stammte, konnte Präsident werden. Man mußte sich bloß einmal Clinton ansehen, den unehelichen Sohn eines unsteten Vaters und einer armen Mutter – genau wie Chan. Man stelle sich das einmal vor: Charlie Chan, der Präsident der Vereinigten Staaten.
    Ein wundervolles Prinzip, fast schon magisch. Wie attraktiv es doch für Narren und Bösewichter sein mußte. Man wurde in dem Glauben erzogen, daß man sein konnte, wer man wollte: Clark Gable, Abraham Lincoln, George Washington, Al Capone, Bonny und Clyde. Man brauchte nur den richtigen Hut dazu und eine Waffe. Vielleicht auch Marco Polo? Er blätterte in dem Buch.
    Wenn der Scheich

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