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Die letzten Tage von Hongkong

Die letzten Tage von Hongkong

Titel: Die letzten Tage von Hongkong Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Burdett
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Diese extreme Trägheit der Bewegungen war sogar für einen Engländer der Oberschicht ungewöhnlich.
    »Sie hat noch nicht mit Ihnen geschlafen. Sie ist fasziniert von den meisten Männern unter Vierzig, mit denen sie noch nicht geschlafen hat – allerdings gibt es von denen nicht mehr allzu viele in Hongkong. Wenn ich Sie wäre, würde ich dafür sorgen, daß sie weiter fasziniert bleibt – können Sie mir folgen?«
    Diplomaten waren noch schlimmer als Anwälte, weil sie es fast mühelos schafften, andere Menschen zu verärgern. »Was geht Sie das an? Was machen Sie überhaupt hier?«
    Cuthbert stieß den Rauch seiner Zigarette aus und nickte bedächtig. »Emily ist eine interessante Frau.«
    »Wissen Sie viel über sie?«
    Cuthbert machte Anstalten, etwas zu sagen, doch dann überlegte er es sich anders. Er streckte seufzend die Hand aus – eine Geste, die man nur theatralisch nennen konnte. »Sagen Sie mir, mein Freund, ist es nicht einfach … wunderbar?«
    »Was?«
    »Hier zu sein, in diesem Augenblick, in dieser tropischen Nacht, umgarnt von diesen chinesischen Mysterien, die uns beide überdauern werden?«
    »Ist das der Grund, warum Engländer wie Sie nach Südostasien kommen – die chinesischen Mysterien?«
    »Ich kann nur für mich sprechen. Nachdem ich meine Chinesischkenntnisse ein Jahr lang in China verbessert hatte, habe ich eine Stelle am Magdalen College angenommen. Lange habe ich es dort nicht ausgehalten. Ich hatte das China-Virus erwischt. Ich brauchte Maos hirnlose Sprüche, die Armut, die Gewalt, die Leidenschaft, die Verletzung von Menschenrechten, das Gefühl, mich an jenem Punkt der Erdoberfläche zu befinden, an dem sich die tektonischen Platten aneinander rieben. Ich hatte mich verliebt. Ich wollte sogar noch mehr von Maos Gedichten kennenlernen, können Sie sich das vorstellen? 1964 hat er eins mit dem Titel ›Schnee‹ veröffentlicht, das ich auswendig gelernt habe, natürlich auf Mandarin. Ich erinnere mich noch an die letzte Zeile …«
    »›Wenn du wirklich große Männer kennenlernen willst, solltest du dich nur in diesem Zeitalter umsehen‹«, zitierte Chan. »Ich habe es nie auf Mandarin gelernt, nur in der englischen Übersetzung.«
    Cuthbert, der gerade die Zigarette zum Mund führen wollte, hielt inne. »Genau. Sie sind wirklich ein höchst erstaunlicher Mann, wie es die wahrhaft Intelligenten immer sind.« Er schwieg, dann seufzte er. »Aber Mao meinte mit den großen Männern Asiaten.«
    »Das versteht sich von selbst.« Das hatte Chan schon bei mehreren klugen gweilos erlebt – so etwas wie nostalgische Gefühle für bestimmte Ereignisse. Offenbar passierte in England nichts; um wirklich am zwanzigsten Jahrhundert teilzuhaben, mußte man ins Ausland reisen. Doch wenn man dort ankam, stellte man fest, daß Größe heutzutage im allgemeinen nur den Bewohnern des jeweiligen Landes anhaftete. Er schwieg eine Weile.
    »Hinsichtlich dieser chinesischen Mysterien habe ich eine Information, die Sie interessieren dürfte.«
    »Ja?«
    »Xian hat die drei Leute in Mongkok wahrscheinlich nicht umgebracht. Ist es nicht das, wovor Sie so große Angst haben – daß ich ihn als Schuldigen entlarve?«
    Nur begrenzt interessiert sagte Cuthbert: »Vielleicht. Aber was hat Sie zu dieser Ansicht geführt?«
    »Vor zehn Minuten hat er mir einen Wohnblock angeboten, wenn ich ihm sage, wer’s war. Zumindest glaube ich, daß er das gemeint hat.«
    »Und Sie haben dieses großzügige Angebot nicht angenommen?«
    »Nein.«
    »Aber warum denn nicht?«
    »Weil ich halber Chinese bin.«
    »Und was soll das heißen?«
    »Ich habe darauf gewartet, daß er mir zwei Wohnblocks anbietet.«
    Cuthbert legte den Kopf in den Nacken. Im schwachen Licht der Ankerlampen sah Chan, daß er lachte. Stumm, ein guter Diplomat.
    Chan kehrte ein wenig beschämt in seine Kabine zurück. Der englische Humor war wirklich eine Krankheit. Egal, wie sehr man sich dagegen wehrte – irgendwann machte man die gleichen albernen Scherze wie sie.
     
    Letztendlich war es dann jedoch Marco Polos Stimme, nicht die von Jenny, Cuthbert oder Xian, die er hörte, als er eindöste. In dem folgenden Traum war Marco Polo ein eleganter Italiener in Mandarin-Kleidung, der irgendwo in die Ferne deutete und einen Satz in Chans Kopf widerhallen ließ: Niemand, dessen Tod der Scheich vom Berg wünschte, entkam seinem Schicksal.

SECHSUNDDREISSIG
    Ein leises Klopfen an der Tür weckte ihn auf. Licht strömte durchs Bullauge. Er zog Shorts

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