Die letzten Tage von Hongkong
hatte wirklich ein Geschick, einem die Worte im Mund herumzudrehen, und sie hörte erst auf, wenn sie den Gegner zur bedingungslosen Kapitulation gezwungen hatte.
»Hör zu, ich möchte nicht, daß uns allen der morgige Tag verdorben wird. Ich weiß, wie gut du das kannst. Tut mir leid, daß ich eine abfällige Bemerkung über deinen großherzigen Machopolizistenbruder gemacht habe, ja? Können wir jetzt damit aufhören?«
»Keine Sorge, ich werde dich vor deinen Freunden schon nicht mit Bauernsentimentalitäten in Verlegenheit bringen – oder sind das Klienten? Irgendwie fällt es mir schwer, einen Unterschied festzustellen.«
Chan stand kopfschüttelnd auf. Der Streit in der Nachbarkabine hatte seine Gedanken aufgewirbelt; er würde jetzt nicht einschlafen können. Also zog er Shorts an und ging zum Oberdeck hinauf, wo er sich auf die elektrische Ankerwinde setzte und mit den Blicken der Ankerkette folgte, bis sie im Meer verschwand. Es war eine absolut stille Nacht. Plötzlich schlüpften Hände von hinten unter seinen Achseln durch und hoben ihn in die Luft. Der zweite Leibwächter kam ebenfalls von hinten dazu und hielt Chans Beine fest, als dieser sich wehren wollte.
»Halten Sie still«, sagte eine Stimme auf Englisch.
Der Mann hatte trotz seines Pekinger Akzents eine gewisse Zeit in England gelebt, das war deutlich zu hören.
Nachdem die Hände ihn zwei Meter in Richtung Ruderhaus getragen hatten, ließen sie ihn wieder los. Aus den Schatten meldete sich eine rauhe Bauernstimme in Mandarin.
»Wir entschuldigen uns«, sagte die erste Stimme. »Wir haben gesehen, daß Sie Ihre Kabine verlassen haben. Wir haben auf Sie gewartet. Wir wollten, daß Sie in die Schatten treten, damit uns niemand zusammen sieht.« Chan vermutete, daß es sich um eine Übersetzung dessen handelte, was der alte Mann gesagt hatte.
Chan schüttelte sich ein wenig und wartete ab. Der alte Mann räusperte sich.
»Gefällt Ihnen dieses Boot?« Diesmal war es keine Übersetzung; der alte Mann hatte selbst gesprochen. Sein abgehacktes, fast unverständliches Englisch klang brutal und dumm. Als rede er über Schweinefutter.
»Ja«, sagte Chan.
»Wollen Sie’s?«
»Nein.«
»Wie wär’s mit einem Wohnblock?«
»Nein.«
Grunzen. »Wenn Sie es rausfinden, sagen Sie es mir, ja?«
»Wenn ich was herausfinde?«
Wieder ein Grunzen. »Was glauben Sie?«
Chan bewegte sich nicht. Sein Mandarin war so gut, daß er folgendes verstand: Der alte Mann sagte seinen Leibwächtern, sie sollten ihm unter Deck folgen. In der letzten Minute drehte er sich noch einmal um.
»Übrigens: Ich habe Ihre Mutter nicht umgebracht. Das waren die Rotgardisten, nicht die Armee, ja?«
»Nein«, sagte Chan, aber das Wort verhallte im Nichts.
Wieder schüttelte er sich, fast ein wenig ungläubig. Es dauerte ein paar Minuten, bis er begriff: Ich bin von China überfallen worden. Er ging zum Heck des Schiffes.
Auf dem hinteren Deck, wo sie zu Abend gegessen hatten, sah er, wie sich ein einzelner roter Glühpunkt in einem Bogen aufs Deck zubewegte, ein wenig aufflackerte und dann wieder hochstieg. Cuthbert erhob sich nicht von seinem Stuhl und wandte auch nicht den Kopf, obwohl Chan mit seinen nackten Füßen besonders laut auftrat, um ihn auf sich aufmerksam zu machen. Er stellte sich, nicht weit von dem Diplomaten entfernt, an die Reling.
»Hallo«, sagte Cuthbert schließlich. »Wollen Sie sich nicht setzen?«
Chan zog einen weißen Plastikstuhl heran. Er merkte, daß Stimmen vom Schwimmdeck fast ungedämpft hier heraufdrangen.
»Sind Sie schon lange da?« fragte Chan.
»Bin gerade erst gekommen. Konnte nicht schlafen.«
Doch als der Engländer die Zigarette wieder senkte, um sie in einem Aschenbecher auszudrücken, sah Chan ein ganzes Häufchen von Kippen. Cuthbert war kein Kettenraucher, also war er vermutlich schon Stunden hier. Und daß er log, bedeutete, daß er Chans Gespräch mit Jenny belauscht hatte und versuchte, diplomatisch zu sein. Für ihn war Diskretion ein Reflex; nun, das war wirklich etwas, das die Klassen voneinander unterschied.
Chan wußte, daß nun Small talk von ihm erwartet wurde, sah aber keinerlei Sinn darin, etwas zu versuchen, das seinem Wesen so völlig fremd war.
»Warum haben Sie das vorhin gesagt? Daß ich mich nicht von ihr verführen lassen soll?«
Cuthbert inhalierte tief, holte das Etui aus seiner Tasche und bot Chan eine Zigarette an, ohne ihn anzusehen. Chan nahm sie, zündete sie sich an und wartete.
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