Die letzten Tage von Hongkong
ihn, daß die Quantenmechanik in den letzten dreißig Jahren genau das bestätigt hatte, was die Chinesen schon seit Urzeiten wußten: Gott machte ein Würfelspiel mit dem Universum. Die alten Weisen hatten sich besonders gut mit dem Zufall ausgekannt, der ihrer Meinung nach die Beschäftigung mehr lohnte als die Wissenschaft. Chan drückte es folgendermaßen aus: Welches Wissen ist wichtiger – daß e=mc 2 ist oder daß man dem Tod entkommt, wenn man am nächsten Tag das Auto zu Hause läßt?
Die Konsultation des großen Buches jedoch war eine hohe Kunst. Es war wichtig, daß man seine Frage präzise und mit dem nötigen Respekt formulierte, zum Beispiel: Ist der menschliche Penis ein legitimes Mittel polizeilicher Nachforschungen? Mit einer solchen Frage hätte Konfuzius wahrscheinlich nicht gerechnet, aber der Bittsteller ging von der Voraussetzung aus, daß das Ganze des Orakels größer war als die Summe seiner Beiträger.
Chan holte drei alte Bleimünzen aus einem kleinen Seidensäckchen. Er warf sie eine nach der anderen. Nach sechs Würfen ergab sich das achtzehnte Hexagramm mit dem Titel »Beseitigung von Korruption (Verfall)«. Er las die Deutung:
Die Beseitigung von Korruption verspricht Erfolg. Wer vor und nach dem Beginn seiner Unternehmungen sorgfältig überlegt, wird mit großen Dingen belohnt.
Dann las er das zugehörige Bild:
Der Weise beseitigt die Korruption wie ein Wind, der leise über einen Berg weht. Wie ein Wind bewegt er zuerst die Menschen. Wie ein Berg gibt er ihnen Nahrung.
Chan zündete eine Zigarette an. Manchmal hatte er das Gefühl, daß die Chinesen zu viel wußten. Fünftausend Jahre widersprüchlicher Erkenntnisse waren eine Datenmenge, mit denen ein Computer fast nicht fertig wurde. Sogar die Kommunisten griffen immer wieder auf Widersprüchliches zurück. Also: Sollte er nun mit ihr schlafen oder nicht? Chans irische Seite sehnte sich nach einem eindeutig formulierten Ratschlag. Er unterdrückte den Drang, das Orakel gegen die Wand zu schleudern, und sah sich statt dessen den Text noch einmal genauer an.
Wie üblich hatten die Weisen ihre fast schon unheimliche Wahrnehmung des Problems, nämlich die Beseitigung der Korruption, mit einer ausgesprochen vagen Geste in Richtung Lösung verbunden – ein Wind, der leise über einen Berg weht.
Wenn man den Wind jedoch als Metapher für die Rede verstand, lieferte das Hexagramm eine knappe Analyse der Befragungskunst.
»Bewegen« war die erste Regel in Befragungen, und »wie ein Wind« hieß, daß man seine Integrität bewahren mußte.
Chan kam zu dem Schluß, daß das Orakel sich letztlich doch für unkonventionelle Ermittlungsmethoden aussprach. Er klappte das Buch zu. Es gab nichts Besseres als die klassische Ambiguität, um zu klaren Gedanken zu kommen.
Er aß in einem winzigen Restaurant, in dem es Ente und Reis gab, zu Mittag, fluchte ein bißchen mit dem Inhaber, rauchte eine Zigarette und trank grünen chinesischen Tee: ein bernsteinfarbenes Gebräu fast ohne Geschmack, das den Magen beruhigte. Wem machte er etwas vor? Warum gestand er sich nicht ein, daß es ein weitaus präziseres, wenn auch vielleicht nicht ganz so weises Orakel gab? Cuthbert. Von einem Wandtelefon aus rief er im Büro des Commissioner an. Tsui war zu Hause, doch Chan hatte seine Privatnummer.
»Wieso hat das so lange gedauert?« fragte Tsui, als Chan ihm erklärte, was er vorhatte. »Kommen Sie morgen nachmittag vorbei. Dann unterhalten wir uns drüber.«
ACHTUNDDREISSIG
Als zweisprachiger Eurasier litt Chan unter Rassenvorurteilen von beiden Seiten und gab diese gelegentlich auch selbst weiter. Die Engländer waren rotgesichtige Großmäuler, arrogant, infantil und neigten manchmal dazu, die Nerven zu verlieren, was sie dann Mitleid nannten. Andererseits waren sie gute Verwalter, fair, und die Frauen hatten große Brüste. Die Chinesen hingegen waren besessen vom Geld, herzlos, schlitzäugig, unverbesserliche Schmutzfinken, abergläubisch und grob. Doch sie waren auch einfallsreich, fleißig, schätzten die Familie und hatten eine Begabung, Geld zu verdienen, um die der Rest der Welt sie beneidete.
Chan hatte seiner politisch korrekten englischen Ehefrau folgendes zu erklären versucht: In Hongkong konnte nichts von dem, was eine Rasse über die andere sagte, die Überzeugung jener anderen Rasse, die überlegene zu sein, erschüttern. Sich über die gegenseitigen Beleidigungen aufzuregen, war, als habe man Mitleid mit dem Mount Everest,
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