Die letzten Tage von Hongkong
davontrieben und irgendwo im Südchinesischen Meer versanken. Er ging langsam zurück zu der Holzhütte, wo sie gelebt hatten, doch die Hütte war nicht mehr da. Während seines Ausflugs zum Meer hatte sich die Hütte in seinem Bewußtsein verwandelt. Die Liebe, die nur Kinder für unbelebte Gegenstände empfinden können, war verschwunden. Vor diesem Tag war ihm nie aufgefallen, daß die Hütte klein war und ihr ein gesellschaftliches Stigma anhaftete. Von nun an haßte er sie.
Und seine chinesische Hälfte fing den Krieg mit seiner irischen Hälfte an, der sein ganzes Leben lang dauern sollte. Gegen Alice im Wunderland setzte er das Tao Te Ching ein, gegen die Robaijat das I Ching und den Dichter Li Po, gegen Kipling die Six Records of a Floating Life.
In diesem Kampf gewann immer die chinesische Seite, wenn auch nie endgültig. Der Ire ließ sich nicht verdrängen; manchmal träumte er von ihm, einem weichlichen, lüsternen, schwachen Mann mit seinem charmanten Lächeln und seiner Liebe zur Dichtkunst. Je rigider die chinesische Seite wurde, desto öfter tauchte die irische völlig unerwartet auf. Moira zum Beispiel. Man mußte schon ein irischer Kenner der Gosse sein, um sich für eine neunundvierzigjährige Alkoholikerin und Ladendiebin erwärmen zu können.
Während Chan noch einmal die Faxe durchging, die Aston ihm gebracht hatte, überlegte er, ob Paddy tot war. Ohne diese Haarlocke wäre die Identifizierung wahrscheinlich schwierig, denn er hatte weder Fingerabdrücke noch zahnmedizinische Unterlagen, und nach all den Jahren würde er ihn nicht mehr erkennen. Aston hatte den Faxen ein Bestätigungsschreiben aus Rileys Büro in der Arsenal Street beigelegt: Chans Bitte um Unterstützung durch Scotland Yard war stattgegeben worden; man hatte die Partikel bereits nach London geschickt. Chan wußte jedoch, daß es einen Monat dauern konnte, bis die Ergebnisse vorliegen würden.
Außerdem fand er jetzt ein Fax vom New York Police Department, das er beim ersten Mal übersehen hatte.
Betrifft Ihr Fax vom 21. April. Captain Frank Delaney wird am 26. April mit dem Flug Nummer U. A. 204 der United Airlines nach Hongkong kommen, um Ihnen wichtige Informationen zu übermitteln. Frank Delaney, Captain N.Y.P.D.
Er zeigte das Fax Aston.
»Ach ja. Tut mir leid, Chief, das hab’ ich völlig vergessen. Morgen nachmittag. Soll ich ihn am Flughafen abholen?«
Mittagszeit. Chan schob sich durch die Menschenmassen zurück zu seiner Wohnung. Am Wochenende waren es zu viele Leute gewesen. Man hätte sich eine weniger anstrengende Gesellschaft auf dem Bootsausflug wünschen können als einen alternden Psychopathen, eine sexhungrige Milliardärin oder einen intriganten Diplomaten – allerdings kroch ihm jetzt, da er wieder allein war, die Einsamkeit in die Knochen, obwohl sein Körper noch ganz aufgeheizt war von der Sonne und vom Meer. Und natürlich von Emily. Er hörte ihre Stimme, alles andere als selbstgefällig, fast schon wehmütig: Wenn du weitere Informationen brauchst, weißt du ja, an wen du dich wenden kannst.
Nun, dazu mußte er erst eine Erektion zustande bringen. Ein echtes Hindernis.
Er war sein ganzes Leben lang auf Brüste fixiert gewesen; seine Lust hatte immer mit ihnen zu tun gehabt. Sandra hatte einen großen Busen gehabt, bei Moira war es nicht anders. Er war immer davon ausgegangen, daß sich das Vergnügen, das er selbst beim Streicheln der Brüste empfand, auch auf die Frau übertrug. Einen Plastiksack voller Salzlösung zu drücken bedeutete, den Akt der Verführung in einen Pawlowschen Reflex zu verwandeln. Vielleicht steckte sowieso nicht mehr dahinter, aber Pawlows Hunde hatten zumindest nie die Nähte gesehen.
Vor seinem geistigen Auge sah er wieder die beiden u-förmigen Narben, die sich hell von Emilys olivfarbener Haut abzeichneten. Die Milliardärin, die sich Perfektion hatte erkaufen wollen. So hatte er die Frage formuliert: Du wolltest perfekt sein? Angenommen, er wäre mutig genug gewesen, es anders auszudrücken: Warum hast du dich selbst verstümmelt?
Von dort war es nur noch ein kleiner Sprung zu einer viel interessanteren Frage: Warum wollte sich eine der erfolgreichsten Frauen der Welt über den Mord an den drei Leuten in Mongkok unterhalten, traute sich aber nicht?
Wenn Chan nicht mehr weiterkam, konsultierte er das I Ching. Natürlich stand davon in keinem Polizeihandbuch etwas, aber Chan hatte die allergrößte Hochachtung vor der Weisheit des Buches. Es freute
Weitere Kostenlose Bücher