Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die letzten Tage von Hongkong

Die letzten Tage von Hongkong

Titel: Die letzten Tage von Hongkong Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Burdett
Vom Netzwerk:
Wechsel vom Wasser aufs Land hatte begonnen.
    Die Verabschiedung am Queen’s Pier ging hastig vor sich. Chan küßte Jenny auf die Wange, schüttelte Emily die Hand, winkte Cuthbert, Jonathan und Xian noch einmal zu und verschwand mit der Rolltreppe im Untergrund.
    In Mongkok wollte er nach Hause gehen, doch dann überlegte er es sich anders und bewegte sich in Richtung Revier. In der Verkehrsabteilung und der Einsatzzentrale herrschte Hektik wie immer, aber in der Mordkommission war nur eine Rumpfbelegschaft anwesend. Es war mitten am Nachmittag, und die meisten Wochenendmorde ereigneten sich erst nach Einbruch der Dunkelheit. Chan schloß die Bürotür hinter sich zu und leerte seinen Rucksack auf den Schreibtisch aus: eine nasse Badehose, das Buch, der Regler mit dem Mundstück, die Maske und die Flossen. Er untersuchte die Innenseite des Rucksacks und tastete jeden Quadratzentimeter ab. Das Mundstück war sauber, der Regler ließ seinen Atem durch, wenn er hindurchblies, und die Flossen waren genauso unberührt wie seine Hose. Jemand hatte den Umschlag seines Buches zugeklebt, damit es in der Tasche nicht aufging. Er riß den Klebestreifen ab. Das Innere des Buches war rechteckig herausgeschnitten, und in dem Loch lag ein kleines Plastiksäckchen. Er nahm es heraus und öffnete es. In seinem Innern befand sich eine schwarze, zähflüssige Substanz, die ungefähr die Konsistenz von warmem Teer besaß. Chan roch daran, strich ein bißchen davon mit dem Finger ab, um den Geschmack zu testen, und verschloß das Säckchen wieder. Aus seiner Schreibtischschublade holte er eine Rolle Kleber, säuberte das Päckchen mit einem Tuch, ging zu der kleinen Küche auf der anderen Seite des Stockwerks und klebte das Päckchen unter die Spüle am hinteren Ende. Dann kehrte er an seinen Schreibtisch zurück, wischte das Buch mit einem weiteren Tuch sorgfältig ab und legte es wieder in seine Tasche.
    Ungefähr zweihundert Meter vom Revier entfernt warf er das Buch in einen Abfalleimer.

SIEBENUNDDREISSIG
    »Südostasien ist wie das Bermudadreieck – dort verschwinden Menschen spurlos«, sagte Aston und knallte einen Stapel Faxe auf Chans Schreibtisch.
    »Was soll ich damit machen?«
    Chan warf nur einen schnellen Blick auf die Briefköpfe: San Francisco Police Department, Manila CID, Royal Thai Police Force. Ein Großteil dieser Auszüge aus Vermißtenlisten nahm Bezug auf das Verschwinden junger Frauen aus dem Westen. Nur wenige erwähnten etwas von ebenfalls verschwundenen chinesischen Männern.
    »Legen Sie sie ab«, sagte Chan.
    »Die mit den Frauen können wir vergessen, stimmt’s? Aber Jekyll und Hyde könnten hier irgendwo dabeisein.«
    »Sie wissen ja, wie alt die beiden ungefähr waren – also überprüfen Sie’s«, sagte Chan.
    »Aber wir haben keine Dentalprofile für eine eindeutige Identifizierung. Was soll ich machen, wenn ich mögliche Kandidaten finde?«
    Chan zündete sich achselzuckend eine Zigarette an. »Eine eindeutige Identifizierung wollten die Täter verhindern, deswegen haben sie die Körper ja durch den Fleischwolf gedreht. Sie werden Verwandte auftreiben müssen, um an Dentalprofile heranzukommen. Wenn man keine Fingerabdrücke hat, sind Unterlagen über die Zähne sehr, sehr wichtig.«
    »Und die DNA?«
    »Das beweist nur, daß die Köpfe zu den Körpern gepaßt haben – wer sie waren, ist ein ganz anderes Problem. Es sei denn, die Verwandten haben ein paar Locken von den Verstorbenen aufbewahrt …«
    »Was?«
    »Ach, nichts. War nur so ein Gedanke. Haarlocken.«
     
    An dem Tag, an dem Paddy verschwand, fand Chan einen kleinen Stapel Bücher am Fußende seines Betts und dazu einen Zettel mit den unbeholfen hingekritzelten chinesischen Schriftzeichen für vergib mir. Er starrte den Zettel über eine Stunde lang an, bevor er in der Lage war, seine Botschaft zu akzeptieren. Dann ging er mit den Büchern hinunter ans Meer: die Barrack-Room Ballads von Rudyard Kipling; die Ausgewählten Gedichte von W. B. Yeats; Alice im Wunderland und Alice hinter den Spiegeln; die Robaijat von Omar Chaijam, die Paddy offenbar erst kürzlich in Hongkong gekauft hatte. In die Innenseite der Robaijat hatte er eine Locke seines braunen, irischen Haares geklebt. Mit Tränen in den Augen und Zorn im Herzen hatte der eurasische Junge die Bücher zerfetzt; zuerst die Rücken, dann Seite für Seite. Er warf sie ins Wasser und hob sich den Teil mit dem angeklebten Haar bis zuletzt auf. Dann sah er dabei zu, wie sie

Weitere Kostenlose Bücher