Die letzten Tage von Hongkong
Mädchen von vorhin hatte sich in eine junge Frau verwandelt, die in eine vielversprechende Zukunft blickte. Nur Amerikaner hatten eine solche Zukunft.
»Hier, das ist das neueste Bild von ihr. Ich hab’s vor zwei Jahren aufgenommen, als ich sie in San Francisco besucht habe.«
Irgend etwas war schiefgelaufen. Nach ein paar Jahren auf der Straße des Glücks war das Leben fehlgeschlagen. Clare lächelte noch immer, aber dieses Lächeln war matt und unsicher. Ihre Haare waren erschreckend kurz; zwei silberne Tupfer glitzerten in ihren Ohren. Diesmal sah sie direkt in die Kamera und versuchte, dem Betrachter etwas zu sagen. War es ein Hilferuf?
»Ich kann mir schon vorstellen, was Sie denken, Charlie. Das würde jeder Bulle. Aber es waren keine Drogen, sondern das Ende einer Affäre mit einem verheirateten Mann, das sie ziemlich mitgenommen hat. Sie hat sich danach bald wieder erholt. Aber ich habe keine aktuelleren Fotos mehr als das.«
Chan nickte. Es hatte keinen Sinn, Fragen zu stellen, bevor keine hundertprozentige Identifizierung vorlag. Er legte das aktuellste Foto neben Moiras Fax auf den Boden. Fotos konnten genauso trügerisch sein wie Augenzeugenberichte. Das menschliche Auge sah das, was der Verstand ihm sagte. Chan deckte die Haare, die Angie dem Gesicht gegeben hatte, auf dem Fax zu. Die beiden Mädchen konnten durchaus identisch sein, doch die junge Frau auf dem Foto sah besser aus: Sie hatte ein feineres Kinn, eine schmale Nase und große Augen. Eine Schönheit.
»Wie lange wird Ihre Tochter schon vermißt, Mrs. Coletti?«
»Bitte sagen Sie Moira zu mir, Charlie.« Sie berührte seine Hand.
»Es ist irgendwie merkwürdig, wenn man sich in dieser winzigen Wohnung nicht mit Vornamen anredet. Die Briten haben mit ihrer Förmlichkeit ganze Arbeit bei euch geleistet, was? Ungefähr zwei Jahre.« Sie schluckte. »Nein, ich mache mir selber was vor. Es sind sicher schon zweieinhalb Jahre, daß ich meine Clare nicht mehr gesehen habe.«
»Aber Sie haben mit ihr telefoniert, Briefe von ihr bekommen?«
»Klar, die ganze Zeit. Hören Sie, wir wissen beide, daß Sie morgen mit allen Informationen, die ich Ihnen geben kann, in Ihre gerichtsmedizinische Abteilung marschieren …«
»Natürlich. So lange kann alles andere warten. Tut mir leid.«
Sie winkte ab und schneuzte sich gleichzeitig die Nase mit einem Herrentaschentuch. »Nein, nein. Ich hätte nicht hier reinplatzen sollen, aber was konnte ich sonst schon machen? Ich hab’ an nichts anderes denken können, seit ich das Fax gesehen habe.«
Chan bemerkte, daß die Whiskyflasche leer und der Aschenbecher voll war. Sie hielt sich gähnend die Hand vor den Mund. Er war selbst müde, vielleicht sogar müde genug, um einzuschlafen.
»Wollen Sie noch ein Bier, bevor Sie gehen?«
Sie nickte. »Ja, das würde helfen.«
»Wo ist Ihr Hotel?«
Sie hustete. »Ich hab’ noch keine Zeit gehabt, mir eins zu suchen. Hab’ nicht mal dran gedacht.«
Sie wartete. Chan warf einen Blick auf sein Roleximitat, das er auf dem Beistelltisch abgelegt hatte. Zwanzig nach drei morgens. In Mongkok würde es nicht schwer sein, auch um diese Nachtzeit noch ein Hotel zu finden, aber was hatte das für einen Sinn? Es wäre halb fünf, bis sie sich hinlegen konnte, und sie müßte um neun bei ihm im Büro sein.
»Das Sofa da läßt sich nicht ausklappen. Sie werden die Kissen auf den Boden legen müssen. Vorausgesetzt, Sie wollen hierbleiben.«
»Oh, das ist wirklich nett von Ihnen, Charlie. Wirklich nett. Ich bin mucksmäuschenstill, wenn ich erst mal schlafe.«
»Es ist eine Flasche Wodka im Kühlschrank, wenn Sie die brauchen. Anderen Schnaps habe ich nicht im Haus.« Sie wandte den Kopf mit einem Grunzen ab. »Morgen früh gehe ich als erstes mit Ihren Fingerabdrücken in die Identifizierungsstelle. Die Unterlagen vom Zahnarzt nehme ich auch mit für den Fall, daß die Fingerabdrücke verschmiert sind.«
Sie breitete kniend die Kissen vor der Couch auf dem Boden aus, dann legte sie sich mit einem Seufzen darauf. »Sie sind nett, Charlie. Sie sehen zwar nicht so aus, aber Sie sind’s. Und da ich selbst ein Mensch mit Verletzungen bin, möchte ich Ihnen einen guten Rat geben: Rauchen Sie nicht so viel. Gute Nacht.«
Er lag hellwach auf dem Bett und rauchte, während er sie auf dem Boden schnarchen hörte. Fast hätte er sie beneidet. Seine Gedanken schweiften von dem Fall zu anderen Dingen. Angie, Sandra. Was hatte sie auf die Postkarte geschrieben? »Du gehst
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