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Die letzten Tage von Hongkong

Die letzten Tage von Hongkong

Titel: Die letzten Tage von Hongkong Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Burdett
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und bekam einen Informationssender in englischer Sprache herein. »Gute Fernsicht, hohe Waldbrandgefahr«, sagte eine Stimme mit Londoner Akzent. Chan schaltete aus.
    Der Fahrer deutete auf zwei große Militärhubschrauber, die, unterwegs zum Meer, hinter einem Hügel zu ihrer Linken in einer Rauchsäule hochstiegen. Riesige Becken schwangen an Ketten unter ihren Rümpfen.
    »Ein schlimmer Brand. Hat gestern angefangen.«
    »Waren Camper schuld?«
    »Wahrscheinlich. Ist im Wald passiert; es sind keine Dörfer in der Nähe. Bis jetzt hat man niemanden evakuieren müssen, aber die Sträucher sind strohtrocken.«
    Oben auf dem Hügel eröffnete sich ihnen der Blick aufs Meer: die Pazifikküste von China. Von hier aus war es nicht allzuweit nach Japan, dachte Chan, und wenn man Japan verpaßte, war Amerika vermutlich der nächste Halt. Nicht, daß die alten Chinesen irgendeine Veranlassung gesehen hätten, sich auch nur einen Teil dieser Strecke aus ihrer Heimat fortzubewegen. Das Reich der Mitte war der Nabel der Welt gewesen; dort wollten alle Menschen leben. Nur Europa hatte einen Kolumbus hervorbringen können, einen Mann, der so unzufrieden war, daß ihm sein eigener Kontinent nicht mehr ausreichte. Oder einen Marco Polo.
    Sie bogen nach rechts in eine Küstenstraße ein, die die Briten Hiram’s Highway nannten und die Chinesen »die Straße nach Pak Sha Wan«. Niemand wußte, wer Hiram gewesen war, nicht einmal die Briten selbst, aber Pak Sha Wan war ein winziges Fischerdorf mit einem großen Yachtklub. Mit jedem Jahr wurden die Schiffe und der Klub dort größer und teurer. Millionenschwere Segelyachten lagen in der Hitze neben zigarrenförmigen Schnellbooten vor Anker, die die Kantonesen snake-heads – Schlangenköpfe – nannten. Normalerweise besaßen die Europäer die Segelyachten und die Chinesen die snake-heads. An einem windstillen Tag wie diesem drehten die Boote sich träge in alle Richtungen, und die Verankerungstaue hingen schlaff herunter. Sampans tuckerten zwischen den Schwimmdocks hindurch und nahmen Schwimmer zu Stränden jenseits der Bucht mit.
    »Kennen Sie die Gegend hier?« fragte Chan.
    »Nein, Sie?«
    »Ja, ich bin hier in der Nähe aufgewachsen. In einer Hütte mit Blick aufs Meer.«
    »Tatsächlich? Da haben Sie aber Glück gehabt. Sie hatten wenigstens frischen Fisch und frische Luft. Ich bin in Hak Nam, der Walled City, groß geworden. Da hat’s überhaupt nichts Frisches gegeben. Am wenigsten frisch waren die Huren.«
    Chan lachte. Vor fünf Jahren hatte die Regierung die Walled City niederreißen lassen, eine wild gewachsene, ungefähr eineinhalb Quadratkilometer große Fläche mit offenen Abwasserleitungen, fetten Ratten, Prostituierten und Drogensüchtigen, auf der von den Triaden errichtete Wohnungen standen. Doch manche Leute hatten das Viertel geliebt, genau wie er seine Holzhütte.
    »Sie haben recht. Ich habe Glück gehabt. Ich hab’ mit meiner kleinen Schwester dort gelebt, ihr Geschichten über Meeresungeheuer erzählt und ihr das Schwimmen beigebracht. Wir wollten nie zur Schule. Wir haben keinen Sinn darin gesehen.«
    Der Fahrer nickte.
    Chan war bei seiner zweiten Benson and Hedges angelangt, als sie Sai Kung erreichten. Seit er damals in der Gegend gelebt hatte, war aus dem Dorf eine Stadt geworden, aber der überdachte Markt und die Fischer machten immer noch gute Geschäfte. Der Fahrer brachte den Wagen am Ende des Parkplatzes gleich beim Hauptquartier zum Stehen. Chan stieg aus. Chinesische Jugendliche mit schwarzen Motorradhelmen hingen über den Tanks ihrer Kawasakis und Yamahas und übten in der Mitte des neuen Betonplatzes das Schleudern. Auf der einen Seite hatten Skateboard-Fahrer mit schwarzen Leggings und leuchtfarbenen Knieschützern eine Rampe aufgestellt, über die sie ihre Sprünge machten. Gegenüber war über den verbrannten Ruinen eines chinesischen Holzhauses, in dem der Dorfälteste gelebt hatte, ein Watsons-Supermarkt entstanden. Zu beiden Seiten boten Video- und Musikläden mit getönten Schaufenstern Zuflucht vor der Hitze und eine Hotline zum zwanzigsten Jahrhundert. Zwanzig Jahre lang hatte er sich nie weiter als fünfzehn Kilometer von hier entfernt, aber er fühlte sich wie ein Mann, der nach einem ganzen Leben im Ausland wieder zurückkehrt. Er erinnerte sich noch an Reisfelder, die bis zum Dorfplatz reichten, an einen Banyan-Baum, unter dem die alten Leute die Tage mit Reden und Brettspielen zubrachten, an Kinder, die so scheu waren, daß sie

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