Die letzten Tage von Hongkong
Geschwindigkeiten fährt. So spart man zusätzliche Verpackung und wichtige Zeit.«
»Und es besteht keine Chance, sie auf offener See zu erwischen?«
»Mit solchen Booten? Verglichen mit denen ist das hier eine Barke, ein Witz. Die Boote von denen sind manchmal über dreißig Meter lang und haben vier Außenbordmotoren mit jeweils dreihundert Pferdestärken, das macht insgesamt tausendzweihundert Pferdestärken. Die Dinger schaffen fast hundertvierzig Stundenkilometer. Wir haben nichts Vergleichbares. Wenn wir aktiv werden dürften, wäre es was anderes. Wenn man sie bei einer Geschwindigkeit von hundertvierzig Stundenkilometern zum Beidrehen zwingt, sinken sie. Aber dann bringt man die Schmuggler um, man kann den Wagen abschreiben, und man setzt das Leben der beteiligten Polizisten aufs Spiel, nur um das Auto eines reichen Mannes zu retten. Das ist politisch inakzeptabel.«
Chan hatte solche Klagen schon öfter gehört. Früher hätten die Briten den regen Handel unterbunden, egal, wie viele Chinesen dabei das Leben gelassen hätten. Doch plötzlich agierten alle nur noch äußerst vorsichtig – alle außer den Gaunern und den Parteimitgliedern, die sie beauftragten.
»Aber Sie können sich vorstellen, wie attraktiv so etwas für einen jungen Draufgänger ist. Mitten in der Nacht mit einer AK47 im Anschlag und einem gestohlenen BMW im Rücken mit einer Geschwindigkeit von hundertvierzig Stundenkilometern in Richtung China zu fliegen … Ich würde wetten, die stehen Schlange für den Job.«
Higgins grinste. »Wissen Sie, wenn ich nicht Polizist wäre …«
Chan lächelte. Obwohl Higgins schon eine kahle Stelle auf dem Kopf hatte, war er noch jung, vielleicht sogar unter dreißig. Noch war er Polizist, aber in zwei Monaten wäre er lediglich einer von vielen im Exil lebenden Pennern, die nicht wußten, wo sie hin sollten. Niemand riß sich darum, frühere Hongkonger Polizisten einzustellen. Und merkwürdigerweise wollten sie auch alle nicht mehr nach Hause ins Land der untergehenden Sonne.
Higgins ließ ihn allein, als sie rechts an der Big Wave Bay vorbeifuhren. Chan drehte sich um, lehnte sich mit dem Hinterteil gegen die Reling und sah den Bewegungen des Wassers zu. Ich hab’ geträumt, ich bin ein Schmetterling. Oder bin ich ein Schmetterling, der träumt, daß ich ein Mann bin? Das hatte er irgendwo gelesen. Er stellte sich vor, wie die Buchstaben langsam hinüber nach China trieben. Er hatte in der vergangenen Nacht kaum geschlafen.
Chan ging zum Unterdeck und legte sich in der hinteren Kabine auf ein paar Kissen. Ich bin ein Schmetterling, der träumt, daß er ein Mann ist. Schon nach wenigen Sekunden war er eingeschlafen. Er wachte erst auf, als Higgins ihn schüttelte.
»Wir sind jetzt gleich an der Stelle.«
EINUNDZWANZIG
Chan versuchte den Schlaf abzuschütteln, hangelte sich an der Reling entlang zum Vorderdeck und stellte sich neben Higgins an den Bug.
Die Schwimmplattform war verankert, und der Schleppkahn machte gerade die Leinen los, als sie herankamen. Die Küste von Hongkong lag etwa eineinhalb Kilometer westlich, die von China ungefähr in gleicher Entfernung nördlich. Die politische Grenze jedoch war nur ein paar hundert Meter weg. Abgesehen von der Plattform, dem Schleppkahn und dem Polizeiboot waren nirgends Hinweise auf menschliches Leben zu erkennen.
Allein das gedämpfte Tuckern des Dieselbootsmotors störte die urzeitliche Stille. Sie befanden sich nur etwa fünfundvierzig Kilometer von Hong Kong Island entfernt, aber hier gab es keinen Grund, den irgend jemand bebauen wollte, keine Bodenschätze und keine Straßen, die an irgendeinen wichtigen Ort führten. Außer nachts.
Über ihnen erhob sich ein Seeadler in die Lüfte und schwebte vor die Sonne, während er sie beobachtete. Chan wandte blinzelnd den Blick ab. Selbst mit der dunklen Brille war ihr greller Schein nur schwer zu ertragen.
Das Boot verlangsamte bis auf einen halben Knoten. Die Versuchung, nackt in das klare blaue Wasser zu tauchen, das an seinen Flanken leckte, war fast unwiderstehlich. Chan erinnerte sich wieder an einen schmächtigen eurasischen Jungen und seine Schwester, die jeden Morgen und Abend splitternackt nach Venusmuscheln tauchten, den ganzen heißen Sommer lang, während die Schreie ihrer Mutter von China herüberhallten, auch unter Wasser.
»So, da wären wir.« Higgins strahlte.
Wegen solcher tropischer Abenteuer gingen die gweilos zur Polizei. Wahrscheinlich war Paddy vor sechsunddreißig
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