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Die letzten Tage von Hongkong

Die letzten Tage von Hongkong

Titel: Die letzten Tage von Hongkong Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Burdett
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sich vor der Pubertät kaum aus dem Haus wagten. Der Westen hatte eine drastischere Kulturrevolution eingeleitet als Mao. Offenbar waren nur ein paar Jahrzehnte nötig, um eine fünftausendjährige Kultur durch das schockierend Neue zu ersetzen.
    Er ließ den Blick über das Hafenviertel wandern, wo die Vergangenheit wartete. Der größte Teil der Fischerflotte war draußen auf dem Meer: Nur ein halbes Dutzend Trawler lag in der Nähe des Marktes vor Anker; die alten Damen auf den Sampans, die den Bootsfrauen Gemüse, Enten- und Schweinefleisch brachten, fuhren zwischen den hohen grünen Flanken der Trawler hindurch, die zurückgeblieben waren, und stocherten ungerührt und o-beinig mit einem einzelnen langen Paddel im Wasser herum. Aus der Ferne sah er, daß sie noch immer Dauerwellen hatten und ein Lächeln voller Gold. Sollte er sie begrüßen? Lieber nicht. Schließlich war er mittlerweile geschieden und seit fünfzehn Jahren nicht mehr hiergewesen. Laß die Sonne die Erinnerung erhellen, wie der Fukienese zu sagen pflegt.
    Er ging den Pier entlang, an dessen Ende ein kleines Polizeiboot wartete.
    Er nickte dem Kapitän zu, ging an Bord und fing sofort ein Gespräch mit dem englischen Senior Inspector an, der auf einem Außenposten in Mirs Bay stationiert war. Die Briten hatten immer darauf geachtet, daß ein Engländer diesen Posten, der der chinesischen Küste am nächsten lag, befehligte.
    Higgins zeigte Chan eine Seekarte des Marine Department.
    »Genau da.« Dabei deutete er auf einen Punkt nahe der Linie, die die Volksrepublik von Hongkong trennte. »Es war der reine Zufall. Ein paar begeisterte Taucher von der Polizei waren am Wochenende da drüben und haben ihre extragroßen Unterwasserharpunen, ihre Taucheranzüge von Gucci und ihre bis auf dreißig Meter Tiefe genauen Seikos ausprobiert. Das sind junge Leute, die haben kaum ihre Ausbildung hinter sich. Aber sie sind clever. Sie haben ein bißchen weiter im Norden außergewöhnliche Fische entdeckt und sind, obwohl sie der Grenze eigentlich nicht hätten so nahe kommen dürfen, weitergeschwommen, weil sie hofften, etwas Größeres als Garnelen zu finden. Die Fische waren von einem Gerät angelockt worden, das aussah wie ein großer Industriefleischwolf. Die jungen Leute sind noch ein bißchen näher rangeschwommen, und tatsächlich – es war ein großer Industriefleischwolf. Einer von ihnen hat sich dran erinnert, daß Sie nach so was suchen, also haben sie mir Bericht erstattet. Ich habe ein paar Leute runtergeschickt, um die Sache zu inspizieren, und sie haben die Entdeckung bestätigt. Ich dachte mir, vielleicht mögen Sie die Bergungsaktion überwachen.«
    »Wie groß? Wie alt? Ich meine den Fleischwolf.«
    Higgins zuckte mit den Achseln. »Das steht noch nicht fest. Aber wenn Fische noch was zu fressen drin gefunden haben, würde ich annehmen, daß er noch nicht so lange da unten ist.«
    Chan zündete sich noch eine Benson an, ohne dem Stirnrunzeln von Higgins Beachtung zu schenken.
    »Ich hab’ mir gedacht, die genaue Position könnte Sie interessieren«, sagte Higgins.
    »Ja, die interessiert mich auch.«
    »Schon ein merkwürdiger Zufall, finden Sie nicht auch?«
    »Was?«
    »Tja, Sie finden einen Sack mit menschlichen Köpfen am äußersten westlichen Ende unseres Gebiets, und jetzt entdecken wir den Fleischwolf am äußersten nordöstlichen. Beide Male direkt an der Grenze zur Volksrepublik China.«
    Chan wollte sich mit dem Engländer nicht über dieses Thema unterhalten. »Ist wahrscheinlich wirklich ein Zufall.«
    Higgins schüttelte den Kopf. »Nun, wenn ich die Ermittlungen leiten würde, würde ich das als überprüfenswerten Hinweis erachten.«
    Chan sog den Rauch seiner Zigarette ein und musterte Higgins. Nach vierhundert Jahren Empire brachten die Briten immer noch Männer hervor, die sich nur dann wohl fühlten, wenn sie einem Eingeborenen vorschreiben konnten, was er zu tun hatte. Wohin würden sie alle in zwei Monaten verschwinden?
    »Danke für den Tip. Wie organisieren Sie übrigens die Bergungsaktion – gehen Taucher runter, um das Ding an den Haken zu nehmen?«
    Chan zählte mit: Higgins nickte genau fünfmal begeistert.
    »Richtig. Wir haben uns vom Marine Department einen Schleppkahn geborgt und damit eine kleine Plattform vom Tolo Harbour hier rausgezogen. Es sind ein paar Polizeitaucher an Bord. Wir schätzen, daß er in etwa fünfunddreißig Meter Tiefe liegt, also gibt’s keine Probleme für die Taucher. Offenbar

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