Die letzten Tage von Hongkong
wichtig, ein reicher Chinese zu sein.‹ Damals hast du dich für Jura entschieden. Der Schrecken des vielen Geldes ist nichts, verglichen mit dem Schrecken des wenigen Geldes – besonders für jemanden wie dich. Hab’ ich recht?«
»Wahrscheinlich schon. Du hast genug gesagt.« Er stand verärgert auf, weil er weder an diese Demütigung noch an die viel schlimmere Lektion erinnert werden wollte, von der er Emily aus Scham nichts erzählt hatte: Nachdem seine Wunden verheilt waren, hatte er ein paar Schläger aus einem örtlichen chinesischen Restaurant, die behaupteten, Handlanger der Triaden zu sein, dafür bezahlt, daß sie ihn rächten. Er erinnerte sich an eine nächtliche Garage, an vier große, grobgesichtige Engländer, die quiekten wie die Schweine und sich beim Anblick der acht gelbhäutigen Männer mit Stahlrohren, Fahrradketten, Messern und natürlich Hackebeilen buchstäblich in die Hose machten, während er zitternd danebenstand und etwas Schreckliches erkannte: daß zum Überleben Macht nötig ist und daß man Autorität kaufen muß, wenn sie einem nicht angeboren ist.
Nach der nächtlichen Rache hatte er Emily von seinem Schwur, ein reicher Chinese zu werden, erzählt, aber die düsteren Details, die dazugehörten, ausgelassen. Sie waren so untypisch für seine sanfte Lebenseinstellung, daß er sie als Verirrung zu betrachten pflegte. Doch es war nicht daran zu rütteln: Er war auch nicht anders als sie. Wenn er mit dem Rücken zur Wand stand, oder wenn sein Ego bedroht wurde, würde er seinen Gegner mit dem Messer angreifen, ihn verstümmeln oder ermorden … da half auch keine Künstlerseele. Er drehte sich mit gezwungenem Lächeln zu ihr um. Sie hob die Augenbrauen.
»Dann nimmst du mein Angebot also an, wenn sich deine Partner überzeugen lassen?«
»Widerwillig und mit gesträubten Nackenhaaren, ja.«
»Dann sage ich dir jetzt, warum sie dir das Geschäft erlauben werden.«
Als Emily geendet hatte, reichte sie Wong ein schnurloses Telefon, mit dem er Rathbone anrufen sollte. Ganz seiner Arbeitsmoral entsprechend saß Rathbone im Büro und aß ein Sandwich. Wong setzte das Treffen mit Rathbone, Savile, Watson, dem australischen Partner für kaufmännische Fragen, und Ng, dem chinesischen Partner für Rechtsfragen, für halb drei Uhr fest. Dann ließ er sich von Emilys Hausmädchen eine Bloody Mary bringen. Er holte einen Block und einen Stift aus seiner Aktentasche.
»Ich notiere mir lieber die Namen der Gesellschaften, die du erwähnt hast. Und die Leute, von denen du mir erzählt hast – ich hatte ja keine Ahnung.«
Aus dem Gedächtnis diktierte Emily ihm die Namen von über hundert Gesellschaften und deren Mitarbeitern, ohne auch nur einmal ins Stocken zu geraten.
»Und die gehören alle den sechzehn Inhabern von Zedfell oder arbeiten für sie?«
»Alle. Du wirst feststellen, daß ungefähr sechzig Prozent eures Umsatzes im letzten Jahr auf die eine oder andere Weise in der Volksrepublik China erwirtschaftet wurde und aus einer oder mehreren dieser Gesellschaften stammte. Du hast recht, wenn du sagst, daß mir eure Kanzlei nicht gehört. Sie gehört ihnen.«
Als Wong sich zum Gehen wandte, steckte Emily das Ende ihres Brillenbügels in den Mund und sagte: »Übrigens – ich muß dir was gestehen. Ich glaube, ich finde deinen Schwager wirklich interessant.«
Wong zwang sich zu einem Lächeln. »Ich werde sehen, was sich machen läßt.«
NEUNZEHN
Mittags saß Chan mit einem Laborbericht und zwei Fotoreihen, die die Identifizierungsstelle in der Arsenal Street entwickelt hatte, allein im Büro. Der Laborbericht bestätigte, daß der weiße Inhalt des Plastiksäckchens Heroin gewesen war. Chan wandte seine Aufmerksamkeit den Fotos zu. Auf die Rückseite einer Reihe schrieb er mit Kugelschreiber: Aufgenommen nach Laserbearbeitung eines Plastiksäckchens, das am Tatort in einem Beleuchtungskörper gefunden wurde. Auf die Rückseite der anderen Reihe schrieb er: Aus den › Reisen des Marco Polo ‹ , einem Taschenbuch, das die Mutter des Opfers Clare Coletti zur Verfügung gestellt hat.
Jedes Foto war auf das Dreifache seines ursprünglichen Formats vergrößert worden. Chan suchte eine Aufnahme heraus, die nach einem Daumenabdruck aussah, und verglich sie mit einem anderen Daumenabdruck. Er stellte keine Übereinstimmung fest. Als er ein weiteres Foto mit dem ersten verglich, ergaben sich wieder keinerlei Ähnlichkeiten. Es existierte noch ein dritter Daumenabdruck von dem
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