Die letzten Tage von Hongkong
braunen Dienstschreibtisch. Ein ziemlich uninteressantes Leben voller Arbeit, das durch ein frühes Trauma und eine Scheidung beeinträchtigt worden war und in jüngster Vergangenheit durch ein bißchen Romantik bereichert wurde. Auf der positiven Seite eine ungewöhnlich hohe Erfolgsquote bei der Aufklärung von Schwerverbrechen, ein schwarzer Gürtel in Karate und eine Tapferkeitsmedaille in jungen Jahren. Auf der negativen eine selbstzerstörerische Ader, die sich in Kettenrauchen, gelegentlicher Aufmüpfigkeit gegenüber Vorgesetzten und der Weigerung äußerte, bei gesellschaftlichen Zusammenkünften zu erscheinen, die seiner Karriere förderlich gewesen wären. Man konnte Chan fast schon ungesellig nennen.
»Na, verschaffen Sie sich ein Bild?« fragte Chan. Der Beamte sah ihn wütend an. »Soll ich Ihnen helfen?«
Cuthbert war verschwunden. Chan vermutete, daß er irgendwo im Hintergrund lauerte, um Peinlichkeiten zu vermeiden. Die Engländer richteten ihr Leben schon seit den Zeiten des Empire nach der Regel aus: sich niemals entschuldigen, niemals etwas erklären.
Es dauerte noch eine halbe Stunde, bis der Beamte den Telefonhörer in die Hand nahm und Mr. Cuthbert verlangte. Chan empfand es als ermutigend, wenn Engländer voller Ehrerbietung mit ihren Vorgesetzten sprachen. Noch tausend Jahre, dann würden sie anfangen, Dynastien zu gründen.
»Offenbar hat er den Tag und die Nacht mit seiner Freundin im Grand Hyatt verbracht, Sir. Wir haben seine Aussagen überprüft. Ich glaube nicht, daß ich ihn weiter hier festhalten kann, Sir. Soll ich ihn gehen lassen?«
Er legte auf und sah Chan an. »Sie nehmen eine Woche Urlaub – zu Hause. Schlafen Sie jede Nacht in Ihrer Wohnung, und melden Sie sich zweimal täglich. Und gehen Sie nicht tauchen.«
FÜNFUNDZWANZIG
Der ziemlich korpulente Sir Michael Henderson kam aus der ersten Klasse des Cathay-Pacific-Flugs mit der Nummer CX250 von London und wurde sofort von einem hohen Grenzbeamten begrüßt, der den über einsneunzig großen, hundertfünfundzwanzig Kilo schweren Engländer mit »Sir« anredete und ihn fragte, ob er einen guten Flug gehabt habe. Der Staatssekretär nickte und antwortete mit dröhnender Stimme: »Wunderbar.«
Der Beamte führte Henderson unverzüglich zu einer Tür mit der Aufschrift »Kein Zutritt« und dann einen Korridor entlang, der an endlosen Ausweiskontrollen vorbei direkt auf die andere Seite des Flughafengebäudes von Kai Tak führte, wo Milton Cuthbert bereits wartete. Die beiden Männer begrüßten einander herzlich, bevor Cuthbert seinen Förderer und Chef zu dem klimatisierten weißen Dienst-Toyota führte, hinter dessen Steuer sein Chauffeur saß. Die beiden Diplomaten lehnten sich in die Rücksitze, als der Fahrer den Wagen in Richtung Central District lenkte.
»Genau richtig zum Mittagessen«, sagte Cuthbert.
»Hauptsächlich deswegen bin ich auch gekommen. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie schrecklich London geworden ist – die Kultur geht vor die Hunde. Heutzutage wagt niemand mehr, sich ein gutes Geschäftsessen zu gönnen, aus Angst davor, daß jemandem dazu wieder so ein grauenvoller Ausdruck aus dem doch recht begrenzten politisch korrekten Vokabular einfällt: ›dekadent‹, ›Verschwendung‹, ›Konsumauffälligkeiten‹. Ich habe sogar schon gehört, daß jemand einen Minister ›maßlos‹ genannt hat, weil der nach dem Mittagessen noch einen Cognac getrunken hat. Da ist ein neuer Faschismus im Entstehen, Milton, und das erschreckt mich. Sie wissen ja gar nicht, wie glücklich Sie sich schätzen können, die letzten zehn Jahre in dieser Bastion des Überflusses und des Laisser-faire verbracht zu haben.«
Cuthbert lächelte. »Reicht der Club, oder sollen wir lieber die haute cuisine im Pierrot’s genießen?«
»Mein lieber Freund, für einen leidgeprüften Proletarier wie mich ist der Club haute cuisine. Ich habe ein bißchen geschlafen im Flugzeug, und wissen Sie was? Da hatte ich den wunderbarsten Traum meines Lebens. Der drehte sich um das Silberwägelchen in Ihrem Club, und darauf befand sich ein riesiges, nicht ganz durchgebratenes Stück vom Angus-Rind mit Markknochen, heller Sauce und Yorkshire-Pudding, außen knusprig und innen verführerisch weich. Ansonsten kann ich mich noch an einen Bordeaux erinnern. Das Etikett konnte ich nicht so genau erkennen, aber die Flasche sah mir sehr nach einem St. Julien, vielleicht auch nach einem St.-Estèphe aus.«
»Vielleicht ein St.-Estèphe
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