Die Leute mit dem Sonnenstich
gedacht. Aber — war es wirklich notwendig, sich bei Nacht und Nebel fortzustehlen? Jetzt fiel ihm die einfachste Lösung ein, auf die bisher niemand gekommen war, weder er noch Marion, noch Herr Keyser: von Herrn Prack Anzug und Boot auszuborgen und selber nach Ingolstadt zu fahren!
»Gestern sträubten Sie sich noch mit Händen und Füßen dagegen, von Michael — ich meine von Herrn Prack — auch nur einen Pfennig auszuborgen!« stellte Barbara fest.
Steffen war die Erinnerung an sein starkes Auftreten in diesem Augenblick sehr peinlich.
»Und den ganzen lieben langen Tag lang redeten Sie von nichts anderem als von Ihrem felsenfesten Entschluß, die Insel um jeden Preis zu verlassen«, fuhr Barbara fort. »Und jetzt ist es soweit!« Sie legte die Hand auf seinen Arm und sah ihm mit einem betörenden Blick in die Augen. »Den ganzen Tag über habe ich darüber nachgedacht, wie wir beide von dieser schrecklichen Insel herunterkommen können und wie ich Ihnen dabei helfen könnte. Und nun will es mir fast scheinen, als käme Ihnen meine Hilfe sehr ungelegen und als bereuten Sie Ihren Entschluß.«
Es klang traurig und tief enttäuscht.
Was! Den ganzen Tag hatte sie an ihn gedacht und — für ihn sogar gestohlen! Der Teufelskerl in ihm regte sich wieder, aber seine wahre Natur suchte verzweifelt nach einem Loch, um dem anderen Steffen zu entschlüpfen. Ja, gewiß, selbstverständlich sei er fest dazu entschlossen, die Insel zu verlassen. Es frage sich nur: wie. Und er zweifle doch stark daran, daß die Art, wie sie es zu tun vorschlüge, die richtige sei. Auch Husarenstreiche hätten ihre Grenzen! Und schließlich sei man doch Bürger eines Rechtsstaates, nicht wahr?
Ja, er versuchte sogar, Barbara davon zu überzeugen, daß es weit männlicher und kühner und auf jeden Fall ehrlicher sei, dem Feind offen ins Auge zu blicken und — bitte sehr! — ohne
Demütigung vor ihm, sondern sozusagen ultimativ, Boot und Anzug zu fordern! Wäre das nicht mutiger, als sich heimlich davonzumachen?
Sehr behaglich war ihm unter Barbaras spöttischem Blick nicht zumute. Barbara wandte nämlich ein, die Form ändere nichts daran, daß Bettel eben Bettel sei, ob man nun erzähle, man habe eine lungenkranke Frau und sechs hungrige Kinder daheim, oder ob man unverschämt genug sei, den Fuß in die Tür zu klemmen und mit drohender Stimme zu fordern.
Das nächtliche Flüstergespräch drohte philosophisch zu werden, denn Steffen stellte jetzt an Barbara die Frage, was sie vor ihrem Gewissen für moralischer und besser halte: zu fordern oder zu stehlen?
Barbara antwortete unbedenklich, daß sie in jedem Fall stehlen würde. Denn das verlange wenigstens einen Entschluß und eine Tat, während jeder Bettel unwürdig sei, weil er Schamlosigkeit voraussetze.
»Was Sie für merkwürdige Ansichten haben!« sagte Herr Steffen sichtlich beeindruckt und nicht imstande, etwas Rechtes zu erwidern. Aber er tat geradeso, als hätte er sich mit Barbara hier zu einer Plauderstunde oder zu einem gemütlichen Stehkonvent eingefunden, und schien große Lust zu haben, das interessante Gespräch fortzusetzen.
Da der Himmel schon stark zu verblassen begann und Wagen und Wega in unergründlichen Femen versanken, setzte Barbara, die nicht länger zu warten gewillt war, alles auf eine Karte.
»Also gut, Herr Steffen«, sagte sie so laut, daß ein Mann mit nicht allzu festem Schlaf auf zehn Schritt Entfernung von ihrer Stimme schon hätte erwachen können, »entweder haben Sie mir Märchen erzählt und in Wirklichkeit niemals ernsthaft daran gedacht, diesem für Sie nicht gerade angenehmen Zusammenleben mit Herrn Keyser und seiner Tochter ein Ende zu machen, oder ich unterschätze augenblicklich Ihren Mut, tatsächlich Herrn Prack entgegenzutreten und Ihre reichlich kühnen Forderungen nach Anzug und Boot zu stellen.«
»Bitte, seien Sie doch leise!« flehte Steffen mit einem ängstlichen Blick auf die nebelumwobenen Zelte.
Barbara war fest entschlossen, im gleichen Augenblick, in dem Michael den Kopf aus dem Zelt steckte, ins Boot zu springen, mit Volldampf abzubrausen und Steffen seinem weiteren Schicksal zu überlassen.
»Also los! Ziehen Sie den Anzug aus!« befahl sie mit weithin vernehmbarer Stimme. »Ich schreie jetzt juhu, wecke die ganze Besatzung, und Sie haben dann die erwünschte Gelegenheit, sich mit Herrn Prack einig zu werden.«
»Aber das hat doch bis morgen früh Zeit!« flüsterte er und rang die Hände.
»Für mich nicht!
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