Die Leute mit dem Sonnenstich
fremder Anzug war, den er trug, griff er wie gewohnt nach dem Taschentuch, das er in der linken Brusttasche zu tragen pflegte. Er erstarrte. Seine Hand klebte innen fest, als wäre er mit den Fingern in eine Rattenfalle geraten. Rattenfalle? Unsinn! Michael war doch kein ambulanter Kammerjäger. Er trug, wie alle Männer, in der linken Brusttasche seine Brieftasche. Und Barbara hatte natürlich nicht Zeit genug gehabt, um bei dem Griff in sein Zelt auch noch langwierige Taschenuntersuchungen vorzunehmen. So war also Michaels Brieftasche mit dem Anzug mitgegangen, samt seinem Reisepaß, fünf leeren Postkarten, einem Jahreskalender mit Notizen, ein paar Briefmarken, seinem Führerschein und — vier nagelneuen Banknoten über je fünfzig Mark! Obwohl es im Grunde ziemlich gleichgültig ist, ob man nun Boote, Anzüge, Ziehharmonikas oder Bargeld stiehlt — für Thomas Steffens Rechtsempfinden war die Entdeckung der Brieftasche und ihres Inhalts geradezu niederschmetternd. Und Barbaras Leichtfertigkeit, sich über diesen unvermuteten Fund und seine Folgen für Michael vor Lachen auszuschütten, so zu lachen, daß sie beinahe das Paddel verloren hätte und gekentert wäre, entsetzte ihn und stieß ihn ab. Er hatte sich schließlich erst nach langen Überlegungen dazu durchgerungen, die freche Entführung von Boot und Anzug als einen Streich anzusehen, als ein Abenteuer. Jetzt kam er sich wie ein flüchtiger Defraudant vor, dessen Steckbrief bereits an den Anschlagsäulen klebte. Und dieses wahnsinnige Geschöpf lachte dazu! Vielleicht wollte sie gar mit ihm noch halbpart machen, wie?
Er war grenzenlos ernüchtert. Dieser frevelhafte Leichtsinn überrieselte ihn wie eine eiskalte Dusche. Er konnte es sich nicht mehr erklären, wie es möglich gewesen war, daß er zu dieser frivolen Person auch nur eine flüchtige Neigung hatte fassen können. Er hatte das Gefühl, von nun an ein Brandmal auf der Stirn zu tragen.
Und er war überhaupt der unbegabteste Dieb, den man sich denken konnte. Ein einzigesmal, mit fünf oder sechs Jahren, hatte er seiner Mutter ein paar Groschen aus der Börse stibitzt, aber es war keine Stunde vergangen, und schon hatte ihn sein Gesicht verraten. Er glaubte noch heute daran, daß es der Ausdruck seines schlechten Gewissens gewesen sei, durch den seine Mama ihm hinter die Schliche gekommen war. In Wahrheit war es sein schokoladebeschmierter Mund gewesen. Aber das tut nichts zur Sache. Wichtig ist, daß er vierzehn Tage lang morgens und abends »Vor allem eins, mein Kind, sei treu und wahr!« aufzusagen gezwungen worden war. Und das hatte einen nachhaltigen Eindruck in seiner Seele hinterlassen.
Aber zu diesem niederträchtigen Gefühl des Gebrandmarktseins kam noch etwas anderes hinzu: weshalb eigentlich hatte jener Kerl namens Prack das Vorhandensein einer Summe verleugnet, mit deren Hälfte schon ihm und Herrn Keyser aus allen Verlegenheiten geholfen gewesen wäre? Die ihm und den Keysers, Vater und Tochter, all das erspart hätte, was zwischen ihnen vorgefallen war? An seiner oder Herrn Keysers Kreditunwürdigkeit hatte es doch wohl gewiß nicht gelegen! Weshalb also hatte jener Bursche geschwiegen, wenn nicht aus dem Grunde, um sie alle drei auf der Insel festzuhalten? Und wie hatte jener Rüpel sich gegen ihn betragen! Hatte er es nicht von Anfang an darauf abgesehen, ihn, Thomas Steffen, zu blamieren und lächerlich zu machen? Und weshalb? Weil der Kerl an Marion Gefallen gefunden und in ihm den Gegenspieler gewittert hatte, den aus dem Felde zu schlagen die ganze Zeit über sein einziges Bestreben gewesen war. Und hatte er sich gegen Fräulein Hollstein nicht ebenso schändlich betragen? Was von Anfang an seine Absicht gewesen war, ihn und Fräulein Hollstein fortzuekeln, war ihm gelungen. Jetzt hatte er freies Feld für seine finsteren Pläne — bis auf Marions Vater, aber den brauchte er nicht zu fürchten, denn leider war Herr Keyser Wachs in den Händen seiner kapriziösen Tochter.
Und wie raffiniert dieser Bursche vorgegangen war! Wie er es verstanden hatte, Unfrieden auf der Insel zu säen, ihn selber mit Barbara zusammenzukoppeln und dieses Fräulein Hollstein schließlich zum nichtsahnenden Instrument seiner Absichten zu machen! Und er selber? Anstatt den Kampf um Marion bis aufs Messer zu führen, war er ausgerückt, geflohen — zusammen mit diesem Mädchen Barbara ausgerissen! Und natürlich gab es nur eine Deutung dieser gemeinsamen Flucht. Zudem aber konnte jener Unhold
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