Die Leute mit dem Sonnenstich
Den Teufel auch! Er war doch gestern nicht betrunken gewesen! Woher auch? Oder hatte er sich tatsächlich im Freien ausgezogen und den Anzug vor oder neben dem Zelt abgestreift?
Ihn beschlichen eine gewisse Unruhe und Unsicherheit. Hatte Dr. Schwenninger bei seiner Entlassung aus dem Krankenhaus nicht von »klinisch unkontrollierbaren Störungen im vegetativen Nervensystem und Erinnerungsvermögen« gesprochen, auf die er in den nächsten Wochen achtgeben solle? Hatte er nicht gesagt, ein Unfall wie seiner, so glimpflich er scheinbar auch abgelaufen sei, könne sich gelegentlich doch einmal sehr unangenehm bemerkbar machen? Um Himmels willen! Ging das etwa jetzt mit ihm los? Irgendwo klaffte ein Riß in seinem Bewußtsein, denn es war ihm — abgesehen vom Erwachen nach allzu feucht gefeierten Festen — noch niemals geschehen, daß er nach dem Erwachen nicht sofort an die letzten Augenblicke vor dem Einschlafen hätte anknüpfen können.
Was dann folgte, als er nun zum Zelt hinausschaute und den vermißten Anzug auch draußen nicht finden konnte, geschah innerhalb von wenigen Sekunden. Es war die Entdeckung, daß die Boote fort, der Anzug weg, die Zelte von Barbara und Steffen leer und die beiden von der Insel verschwunden waren.
Es gibt Leute, die bei solchen Entdeckungen wie betäubt sind und die Sprache verlieren. Michael gehörte nicht zu dieser Sorte. Im Gegenteil, sein Wortschatz fand eine ungeahnte Bereicherung. Daß Barbara mit Steffen verschwunden war und mit ihnen die Boote und sein Anzug, das war vorläufig noch nicht einmal das schlimmste. Das nahm er auf wie ein Mann, der Kummer gewohnt ist und in seinem Leben schon ärgere Dinge mitgemacht hat. Dafür fand er auch nur Worte, die in jedem Wörterbuch verzeichnet sind, das den Anspruch auf Vollständigkeit halbwegs erheben kann. Daß dieser Schlag ihn aber in einem Augenblick traf, in dem er fromm wie ein Osterlamm und sozusagen mit dem Palmwedel des Friedens und der Versöhnung in der Hand aufgewacht war, das hob ihn förmlich von der Erde.
Seine lästerlichen Flüche scheuchten die Vögel auf und weckten Marion und ihren Vater. Etwas unterschiedlich, wie bemerkt werden muß. Denn während Marion aus dem Zelt lugte, um zu sehen, was es gäbe, kroch Herr Keyser um so tiefer in seinen warmen Schlafsack. Er konnte nichts anderes glauben, als daß sein Anschlag entdeckt worden sei.
Da Michael ohne nähere Bezugnahme auf die Ereignisse fluchte und wetterte, konnte auch Marion nicht wissen, was ihn so erregte. Daß die Boote fehlten, konnte sie von ihrem Platz aus nicht sehen, und da Michael die Zelte von Barbara und Thomas Steffen nicht zerstampft hatte, wozu er durchaus fähig gewesen wäre, ahnte sie auch nichts vom Verschwinden ihres Toggenburg.
»Was ist denn los?« rief sie herüber.
»Sie sind fort!« brüllte er.
»Wer ist fort?« fragte sie.
»Wer?« höhnte Michael und mußte alle Kräfte zusammennehmen, um die Schleusen seines bilderreichen Wortstromes nicht auch vor Marion zu öffnen. »Wer wird schon fort sein? Dieser komische Vogel namens Steffen natürlich, und mit ihm das Fräulein Hollstein!«
Marion wurde sehr munter. Es genügte ihr, sich mit den Fingern zu kämmen und statt der Zahnbürste den Ärmel ihres Schlafanzugs zu nehmen. Und beides im Laufschritt.
»Das ist doch nicht möglich!« sagte sie völlig benommen und sah auch dann noch ungläubig und fassungslos aus, als sie mit ihren Händen die Zelte angelupft und mit eigenen Augen gesehen hatte, daß sie leer und verlassen waren. Wahrhaftig, sie schirmte die Augen gegen die Morgensonne ab und ließ den Blick über die Uferdämme wandern und zuletzt in die Krone der Weide, als könnte Thomas Steffen dort im Baum sitzen und im nächsten Moment Kuckuck rufen.
»Steffen ausgerückt — und zusammen mit diesem Fräulein Hollstein? Ich kann es einfach nicht glauben.«
»Was können Sie nicht glauben?« knurrte er.
»Daß er so einfach im Badetrikot...«
»Was heißt im Badetrikot? Natürlich nicht in der Badehose! Sondern in meinem Boot und in meinem Anzug!« Fast hätte er noch hinzugesetzt: und mit meiner zukünftigen Frau!
Marion konnte nur den Kopf schütteln. Das ging über ihr Begriffsvermögen. Sie starrte eine Weile sprachlos auf die verlassenen Zelte und auf den Platz, wo die Boote gelegen hatten. Die spärlichen Grasbüschel unter ihnen hatten sich gelblich verfärbt. Steffen in Damenbegleitung durchgebrannt? Nie im Leben hätte sie es für möglich gehalten! Und
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