Die Libelle
wirken, wenn sie auf einen gerichtet sind, bemerkte sie. Ungefähr so groß wie die von Michel. Aber wie Michel selbst ihr gesagt hatte, stellt jede Handfeuerwaffe einen Kompromiss dar: sie muss sich verbergen lassen, bei sich tragen und gut schießen lassen. Den Telefonhörer hielt er immer noch in der anderen Hand, und sie nahm an, dass am anderen Ende der Leitung immer noch jemand zuhörte, denn obwohl er jetzt mit Charlie sprach, ließ er das Gesicht dicht an der Sprechmuschel.
»Hören Sie, Charlie, Sie werden jetzt neben mir her zum Auto gehen«, erklärte er in gutem Englisch. »Halten Sie sich rechts von mir, und gehen Sie einen halben Schritt vor mir her, die Hände auf dem Rücken, damit ich sie sehen kann. Hinten auf dem Rücken zusammengelegt, verstanden? Wenn Sie versuchen, zu fliehen oder jemand ein Zeichen zu geben, wenn Sie rufen, werde ich Sie durch die linke Seite schießen - hier -und Sie töten. Wenn die Polizei auftaucht, wenn jemand schießt, wenn ich einen Verdacht habe - es ist das gleiche. Ich werde Sie erschießen.«
Er zeigte auf die entsprechende Stelle an seinem eigenen Körper, damit sie ihn verstand. Er sagte noch etwas auf italienisch ins Telefon und hängte ein. Dann trat er auf den Bürgersteig hinaus und verzog genau in dem Augenblick, da sein Gesicht dem ihren am nächsten war, den Mund zu einem breiten Grinsen. Es war ein echt italienisches Gesicht, keine einzige leblose Stelle darin. Und auch eine echt italienische Stimme: volltönend und musikalisch. Sie konnte sich vorstellen, wie sie über alte Marktplätze hallte und im Plauderton zu den Frauen auf ihren Baikonen drang. »Gehen wir«, sagte er. Die eine Hand hielt er weiterhin in der Tasche seiner Fliegerjacke verborgen. »Und nicht zu schnell. Hübsch locker, ja?« Eben noch hatte sie das verzweifelte Bedürfnis gehabt, pinkeln zu müssen, doch beim Gehen löste sich der Drang, und statt dessen stellte sich ein Krampf am Halsansatz ein und im rechten Ohr ein Summen wie von einer Mücke im Dunkeln.
»Wenn Sie sich auf den Beifahrersitz setzen, legen Sie die Hände nach vorn aufs Armaturenbrett«, empfahl er ihr, während er hinter ihr herging. »Die Frau hinten ist ebenfalls bewaffnet, und sie schießt sehr schnell auf Menschen. Viel schneller als ich.« Charlie machte die Tür am Beifahrersitz auf, setzte sich und legte die Fingerspitzen auf das Armaturenbrett wie ein wohlerzogenes Mädchen bei Tisch.
»Nicht so verkrampft, Charlie«, sagte Helga fröhlich hinter ihr. »Nehmen Sie doch die Schultern herunter, meine Liebe, Sie sehen ja schon jetzt aus wie eine alte Frau!« Charlie behielt ihre Schultern, wo sie waren. »Lächeln! Hurra! Immer nur lächeln. Alle sind heute glücklich. Und wer nicht glücklich ist, sollte erschossen werden.« »Dann fangen Sie mal gleich bei mir an!« sagte Charlie. Der Italiener setzte sich hinters Steuer und stellte im Radio die Morgenandacht an.
»Mach aus!« befahl Helga. Sie saß mit hochgezogenen Knien gegen die Hintertür verkeilt da, hatte die Pistole mit beiden Händen gepackt und sah durchaus nicht aus wie jemand, der auf fünfzehn Schritt Entfernung einen Benzinkanister verfehlt. Achselzuckend stellte der Italiener das Autoradio aus und wandte sich in der plötzlich wieder eintretenden Stille noch einmal an Charlie. »Okay, schnallen Sie sich jetzt an, und legen Sie die Hände zusammengefaltet in den Schoß«, sagte er. »Warten Sie, ich mach’ das für Sie.« Er nahm ihre Handtasche und warf sie nach hinten zu Helga, dann ergriff er den Sicherheitsgurt und ließ ihn in der Halterung einrasten, wobei er achtlos über ihre Brüste strich. In den Dreißigern. Gut aussehend wie ein Filmstar. Ein verwöhnter Garibaldi mit rotem Halstuch auf dem Heldentrip. Ganz ruhig, als hätte er so viel Zeit zum Töten, wie er wolle, zog er eine große Sonnenbrille aus der Tasche und setzte sie ihr auf. Im ersten Augenblick dachte sie, sie sei vor Angst erblindet, weil sie überhaupt nichts durch sie sehen konnte. Dann dachte sie: Es ist eine jener Brillen, die sich von selbst an den Helligkeitsgrad anpassen. Es wird von mir erwartet, gerade dazusitzen und zu warten, dass sie losfahren. Dann erst ging ihr auf, dass sie nichts sehen sollte .
»Wenn Sie sie abnehmen, verpasst sie Ihnen einen Schuss durch den Hinterkopf, darauf können Sie sich verlassen», warnte sie der Italiener, als er den Motor anließ. »Und ob», sagte die gute alte Helga.
Sie fuhren los. Zuerst ging es über ein Stück
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