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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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ließ ihr Gesicht ein verspätetes Erkennen zum Ausdruck bringen - und gleichzeitig voller Abscheu verdüstern.
    »Ich erinnere mich. Ein schmieriger kleiner Jidd, der sich wie eine Klette an unsere Gruppe hängte.«
    »Reden Sie nicht so von den Juden. Wir sind keine Antisemiten, wir sind nur Antizionisten.«
    »Machen Sie mir doch nichts vor«, herrschte sie ihn an. Tayeh war interessiert. »Wollen Sie mich etwa als Lügner hinstellen, Charlie?«
    »Ob er Zionist war oder nicht - er war ein Ekel. Er hat mich an meinen Vater erinnert.«
    »War Ihr Vater Jude?«
    »Das nicht. Aber ein Dieb.«
    Darüber musste Tayeh lange nachdenken, wobei er zunächst ihr Gesicht und dann ihren ganzen Körper als Bezugspunkt für sämtliche Zweifel benutzte, die ihm noch verblieben waren. Er bot ihr eine Zigarette an, doch sie nahm sie nicht: Ihr Instinkt sagte ihr, ihm keinen Schritt entgegenzukommen. Noch einmal tippte er mit dem Stock auf seinen toten Fuß. »In der Nacht, die Sie mit Michel in Saloniki verbrachten - in dem alten Hotel -wissen Sie noch?«
    »Was ist damit?«
    »Das Personal hat gehört, wie Sie sich spät in der Nacht laut gestritten haben.«
    »Und was soll Ihre Frage?«
    »Bitte, immer schön langsam! Wer hat in dieser Nacht laut geschrieen?«
    »Niemand. Sie haben an der falschen Tür gelauscht.«
    »Wer hat geschrieen?«
    »Wir haben nicht geschrieen. Michel wollte nicht, dass ich fuhr. Das ist alles. Er hatte Angst um mich.«
    »Und Sie?« Das war eine Geschichte, die sie zusammen mit Joseph ausgearbeitet hatte; der Augenblick, als sie stärker als Michel war.
    »Ich wollte ihm das Armband zurückgeben«, sagte sie.
    Tayeh nickte. »Womit sich das Postskript in Ihrem Brief erklärt: ›Ich bin ja so froh, dass ich das Armband behalten habe.‹ Und selbstverständlich ist nie geschrieen worden. Sie haben recht. Verzeihen Sie meinen einfachen arabischen Trick.« Ein letztes Mal sah er sie forschend an, versuchte noch einmal - und wieder vergeblich -, hinter das Rätsel zu kom men; dann kräuselte er die Lippen - offiziersmäßig, wie Joseph das auch manchmal tat - als Vorspiel zu einem Befehl.
    »Wir haben einen Auftrag für Sie. Holen Sie Ihre Sachen, und kommen Sie sofort wieder hierher zurück. Ihre Ausbildung ist beendet.«
    Abzufahren - das war überhaupt das Wahnsinnigste, kam völlig unerwartet. Es war schlimmer als Ende des Schuljahrs; schlimmer, als die Clique im Hafen von Piräus einfach zu versetzen. Fidel und Bubi drückten sie an die Brust, und ihre Tränen vermischten sich mit den ihren. Eine von den Algerierinnen schenkte ihr ein hölzernes Christkind, das man als Anhänger tragen konnte.
    Professor Minkel lebte auf jenem Sattel, der den Mount Skopus mit dem French Hill verbindet, und zwar im achten Stock eines neuen Wohnturms in der Nähe der Hebräischen Universität, einer jener Ansammlungen von Hochhäusern, die den glücklosen Jerusalemer Stadtkonservatoren stets ein Dorn im Auge sind. Jede Wohnung blickte hinab auf die Altstadt, die Altstadt aber auch leider zu jeder Wohnung hinauf. Wie seine Nachbarn, war das Hochhaus Wolkenkratzer und Festung in einem, und die Fensteranordnung war nach den günstigsten Geschoßbahnen festgelegt, sollte ein Angriff zurückgeschlagen werden müssen. Kurtz unternahm drei vergebliche Versuche, ehe er die Wohnung endlich fand. Zuerst verirrte er sich in einem Einkaufszentrum, das in anderthalb Meter dickem Beton errichtet worden war; beim zweiten Versuch landete er auf dem britischen Friedhof, der für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs angelegt worden war: »Ein großzügiges Geschenk des Volkes von Palästina«, lautete eine Inschrift. Er erkundete auch noch andere Gebäude, die meisten Stiftungen von Millionären aus Amerika, bis er schließlich auf diesen Turm aus behauenem Naturstein stieß. Die Namensschilder waren demoliert worden, und so drückte er aufs Geratewohl auf eine Klingel, worauf ein alter Pole aus Galizien auftauchte, der nur jiddisch sprach. Der Pole wusste genau, welches Haus - dies hier, so wahr Sie mich sehen! -, und kannte auch Dr. Minkel und bewunderte ihn wegen seiner aufrechten Ansichten; er selbst habe die altehrwürdige Universität von Krakau besucht. Allerdings kam er auch mit einem Haufen eigener Fragen, die Kurtz beantworten musste, so gut es ging: Wo Kurtz ursprünglich herkomme? Ja, Himmel, ob er denn dann nicht den Soundso kenne? Und was Kurtz, ein erwachsener Mann, denn um elf Uhr morgens hier wolle, wo Dr. Minkel doch

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