Die lichten Reiche: Band 1: Harfe und Schwert (German Edition)
Schultern. Sie wickelte sich eine Locke um den Finger. Thorben hatte einmal gemeint, ihr Haar habe die Farbe von Herbstlaub. Mit der anderen Hand griff Crystal ins Wasser und zerstörte so ihr Spiegelbild. Sie sollte wirklich versuchen zu schlafen. Seufzend schlich sie zurück ins Lager. Leise legte sie sich wieder auf ihre Schlafrolle und schloss die Augen. Sie atmete tief durch und wartete darauf, dass der Schlaf kommen würde, doch dann hörte sie, dass sich Lucthen unruhig hin und her wälzte. Crystal stützte sich auf einen Ellenbogen und blickte zu ihm, um herauszufinden, ob er wach war. Sie hörte ihn schluchzen und schon war sie auf den Beinen. Im Schlaf waren seine Züge gelockert und verrieten mehr Emotion, als er sich das tagsüber gestattete. Sein Gesicht war schmerzverzerrt und Crystal überlegte nicht lange. Sie rüttelte ihn.
„ Lucthen… Lucthen…“
Lucthen träumte von einem Ort, der so wunderschön war, dass sein Anblick schon beinahe schrecklich war; als würde sich das Bild in seine Gedanken brennen, bis sein Geist nur mehr aus diesem Bild bestand. Eine Kuppel aus flirrender Luft erstreckte sich in den Himmel. Dumpf begriff er, dass es sich um einen Zauber handeln musste. Lucthen konnte unmöglich bestimmen wie groß der Ort war, doch ihm schien er riesig. Er sah Rehe auf einer Wiese grasen und daneben eine Wolfsmutter, die ihre Augen unverwandt auf ihre Jungen gerichtet hatte. Er sah Wildschweine, Luchse und Füchse, Hasen, Wiesel und Eichhörnchen. Alle lebten im Schutz der Kuppel friedlich nebeneinander. Als er weiter in den Ort vordrang, sah er auch Bäume, doch sie waren nicht wie die Bäume, die er kannte. Sie alle schienen zu einem bestimmten Zweck gewachsen zu sein. Er sah eine Gruppe Weiden, die ihre Wurzeln so aus der Erde hoben, dass sie einen Tisch bildeten und ihre Zweige Bänke und Stühle. Die Äste von vier Tannen schienen ein Bett zu formen und darüber wuchsen höhere Bäume, die die Schlafstatt vor Regen und Wind schützten. Schließlich näherte er sich einer Reihe von Bäumen, deren Blätterdach eine riesige Halle formte. Sein Herz schlug schneller, als er eine schlanke Gestalt dort stehen sah. Sie trug ein Kleid in der Farbe von Mondlicht, ihr offenes Haar fiel ihr bis über die Hüften. In der riesigen Blätterhalle wirkte sie verloren. Zum ersten Mal, seit er sie sah, konnte er sie beim Namen nennen: Liisatiina. Kurz leuchteten ihre Augen auf und Lucthen hatte das Gefühl, als wüsste sie, dass er bei ihr war. Doch sie konzentrierte sich sofort wieder und sprach. Lucthen konnte nicht verstehen, was sie sagte. Doch die Antwort, die sie erhielt, dröhnte in seinem Kopf. Kein Klang, den er je gehört hatte, ähnelte der körperlosen Stimme, die er nun vernahm. Verglichen mit der samtenen Schönheit dieser Stimme wirkte Crystals Gesang wie das Krächzen einer Krähe.
„ Vielleicht hast du Recht. Vielleicht wurde er wortbrüchig. Doch die Zeit ist noch nicht gekommen. Wir werden helfen so gut wir können, doch das, worum du uns bittest, ist unmöglich. Es wird so geschehen, wie es geschehen soll. Es wird so geschehen, wie es geschehen muss. Vergiss das nicht.“
Lucthen verstand den Sinn der Worte nicht, doch er sah, dass sie Liisatiina tief verletzten. Trotzdem konnte er dieser überirdisch schönen Stimme nicht böse sein. Er sah wie Lissatiina in einer tiefen, respektvollen Geste auf ein Knie sank und er wusste, egal wie sehr die Worte sie auch schmerzten, sie würde nie den Wünschen der Stimme zuwider handeln. Er spürte, dass sie die körperlose Stimme verstand und respektierte und dass es ihr dennoch das Herz zerriss. Lucthen fühlte mit ihr, konnte ihre Qual nicht ertragen. Er beobachtete, wie sie die flirrende Luftbarriere durchschritt, sich danach umdrehte und zu Lucthens Erstaunen sah er nur mehr Wald, ganz gewöhnlichen Wald. Die eigenartige Kuppel war verschwunden, als wäre sie nur eine Illusion gewesen. Und plötzlich hörte er eine Stimme, die seinen Namen rief.
Crystal beobachtete, wie Lucthen langsam aufwachte und sich benommen die Augen rieb.
„ Alles in Ordnung?“, fragte sie besorgt. „Ich glaube du hattest einen Albtraum.“ Lucthen nickte benommen. „Du hast wieder und wieder einen Namen gestammelt.“ Seine Miene erstarrte und Crystal zog sich verletzt zurück. Es tat ihr weh, dass er ihr nicht erzählen wollte, was ihn bedrückte. Sie hatte ihn mit ihren Problemen belastet und er wollte nicht zulassen, dass sie im Gegenzug versuchte,
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