Die lichten Reiche: Band 1: Harfe und Schwert (German Edition)
Lucthen auch. Warum also behauptete er so etwas? Sie wollte ihm schon widersprechen, als sie sich daran erinnerte, wie es sich anfühlte hier zu spielen – als könnte sie das Rauschen der Blätter nicht nur hören, sondern fühlen, als würden die Bäche der Wälder durch ihre Adern fließen, als könnte sie die Sprache der Vögel verstehen. Beim Licht! Konnte es sein, dass Lucthen Recht hatte?
„ Wir würden euch sehr gerne in euer Dorf begleiten“, hörte sie Lucthens Stimme. Benommen nahm sie Sturmmähnes Zügel und folgte ihm.
„ Mach den Mund zu.“
Dawn warf Corus einen wütenden Blick zu, als sie sein dämliches Grinsen bemerkte. Andererseits hatte er Recht. Ihr war vor lauter Staunen tatsächlich der Mund offen stehen geblieben. Sie blickte in sonnengebräunte, nicht unfreundliche Gesichter. Es waren hauptsächlich Männer, die um sie herumstanden, aber Dawn sah auch einige Frauen und sogar ein paar Kinder. Am Eigenartigsten an ihnen fand sie die Haartracht. Sie hatten die Haare zu unzähligen kleinen Zöpfen geflochten, in die Federn, Holzperlen oder Blätter eingearbeitet waren. Die Frauen ließen sie offen auf ihre Schultern fallen, die Männer banden sie im Nacken zu einem dicken Zopf zusammen. Dawn fragte sich, was die achtbaren Mittelländer hiervon halten würden. Immerhin galt es als schon als unanständig, wenn man das Haar – wie sie selbst – nur zu einem Zopf gebunden trug. Eine Frau hatte es hochzustecken und ein Mann hatte es kurz geschnitten zu tragen. Doch von diesen Vorschriften hatten diese Menschen anscheinend noch nie gehört. Dawn sah keine einzige Frau, die ein Kleid trug und als sie bemerkte, wie sich Crystal mit ihren Röcken abmühte, um nicht an tiefhängenden Zweigen hängen zu bleiben, verstand sie auch warum. Dawn grinste. Das war ein Abenteuer. Ihre Mutter würde ihr bestimmt nicht glauben, wenn sie ihr hiervon erzählte! Die Waldbewohner setzten ihre Füße so geschickt zwischen die Wurzeln, dass sie sich im Unterholz völlig mühelos zu bewegen schienen. Dawn stolperte und verzog das Gesicht. Sie sollte lieber auf den Boden achten, als die Fremden anzugaffen. Wohin sie sie wohl brachten? Neben Dawn ging eine junge Frau, die über ihrem Gewand aus hellem Leder einen Bogen quer über die Brust hängen hatte. Sie musterte Dawn ebenso interessiert wie sie selbst die Fremden musterte. Vermutlich erschienen sie den Waldbewohnern ebenso seltsam wie diese ihnen. Sie gab sich einen Ruck. „Mein Name ist Dawn.“
„ Ich bin Rose von der Sippe des Raben.“
Dawn nickte und bemerkte, dass in den Zöpfen der Frau Rabenfedern eingeflochten waren. Interessant. „Wo bringt ihr uns hin?“
„ Ins Dorf bei den drei Weiden.“
„ Heißt das Dorf so?“, erkundigte sich Dawn.
Rose runzelte daraufhin die Stirn, als versuche sie ein Rätsel zu lösen. „Warum sollte das Dorf einen Namen haben?“
Nun war es an Dawn verwirrt zu schauen. „Damit man weiß, von welchem Dorf die Rede ist, nehme ich an.“ Rose schaute Dawn verständnislos an. „In den Mittellanden hat jedes Dorf einen Namen. Ich kann zum Beispiel sagen, ich besuche meinen Onkel in Mühlendorf. Dann weiß jeder, in welches Dorf ich gehen werde.“
Rose lächelte offensichtlich amüsiert und Dawn ärgerte sich. Sie wusste nicht, was daran so komisch sein sollte. Es war doch durchaus logisch, Dörfern einen Namen zu geben.
„ Bei uns haben nur Menschen Namen“, meinte Rose. „Ich kann zum Beispiel sagen, dass ich nach Osten gehen werde oder den Flusslauf entlang oder zu den Hügeln, so wird auch jeder wissen, wohin ich gehe.“
Dawn musste gestehen, dass die andere Frau Recht hatte. Nun, vermutlich waren das nur die ersten Unterschiede zwischen den beiden Ländern. Es gab sicher noch vieles zu entdecken und… Der Anblick, der sich ihr bot, unterbrach ihre Gedanken und ließ sie misstrauisch die Augen zusammenkneifen. Das konnte doch nur eine Sinnestäuschung sein?
In den Wipfeln der Bäume befanden sich Behausungen. Dawn hatte schon Baumhäuser gesehen, kleine Hütten, die Kinder aus altem Holz errichteten und die ihnen als Versteck dienten. Doch das hier war etwas ganz anderes. Eine ganze Stadt erstreckte sich über ihren Köpfen. Die einzelnen Häuser waren rund um die Stämme der Bäume erbaut und durch Hängebrücken miteinander verbunden. Holz schien das einzige Baumaterial zu sein, das die Waldbewohner kannten.
„ Dein Pferd kann nicht mit rauf“, meinte Rose lächelnd und nahm der Gauklerin
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