Die Lichtermagd
von Bingen fiebersenkende Wirkung zugemessen hatte. Ansonsten konnte die Magd den Mönch nur warm halten, ihm zusätzlich Salbeitee einflößen, bisweilen die Decke wenden oder das Stroh austauschen – und beten. Letzteres tat sie viel und anhaltend, doch leise. Sie erwog kurz, den Kranken zu schröpfen, um die schlechten Säfte, die ihn vergifteten, abfließen zu lassen. Doch da sie keine Blutegel hatte, hätte sie das nur mit Schnitten machen können. Zwar hatte sie manchmal dem Bader über die Schulter geschaut, wenn er die Schnitte angesetzt hatte, doch sie wusste, dass man viel falsch machen konnte, wenn man die Adern an der falschen Stelle öffnete.
So musste Luzinde mit ansehen, wie Bruder Ambrosius seinem Fieber in der kältesten Stunde der Nacht erlag. Sie befreite ihn von Stroh und Decken, bahrte ihn anständig auf und faltete ihm die Hände, bevor sie für seine Seele betete. Schließlich hängte sie Gottschalks Mantel zum Trocknen ans Feuer und hielt an seinem Totenbett Wache. Als Ritter Wenzel kurz darauf in die Schmiede trat, murmelte sie leise: »Ich bin keine Heilerin. Ich vermute, dass sein Körper unter der Hitze von innen und der Kälte von außen zergangen ist.« Dann erhob sie sich von der Seite des Toten und überließ Wenzel müde das Feld.
Draußen hielt sie überrascht inne. Das Land war von einer flockigen weißen Decke überzogen. Ihr Atem formte Nebelwölkchen vor ihrem Mund, und ihre Schritte knarrten im kaum berührten Schnee. Gewöhnlich genoss sie die kristallene Landschaft in der Nacht, besonders, wenn man sich in eine beheizte Stube zurückziehen konnte. Heute aber sah sie nur das Leichentuch, das über dem Land lag. Sie zog den Umhang enger um die Schultern und gab Wenzel Zeit für seine Trauer.
Luzinde stierte in die schneehelle Nacht und rang eine Weile mit der Kälte. Als ihre Zehen taub wurden, beschloss sie, wieder hineinzugehen. Zudem machte sie sich Sorgen.
Als sie die Schmiede wieder betrat, atmete sie die stickige Luft nur widerwillig ein. Der Leichnam lag noch dort, wo sie ihn zurückgelassen hatte. Der Ritter saß in einer Ecke an der Bretterwand und starrte auf den toten Freund. Sie eilte an seine Seite, wagte aber nicht, ihn zu berühren.
»Herr Wenzel?«
Er reagierte nicht auf sie.
»Geht es Euch gut?«
Er blieb stumm.
Luzinde fühlte sich hilflos im Angesicht seines Schmerzes. Sie verstand nicht, warum jemand, der vermutlich schon etliche Feinde im Kampf bezwungen hatte, vom Tod so berührt wurde – üblicherweise waren Kriegsleute stumpfe und abgebrühte Gesellen. Die Trauer, die in seinem Gesicht geschrieben stand, erinnerte sie an die eigene. Jetzt hatten sie beide innerhalb weniger Tage einen Menschen verloren, der ihnen lieb und teuer war.Wenzel war so weit wie möglich für sie da gewesen, als sie Gottschalk betrauert hatte. Sie wollte ihm diesen Dienst so gerne erwidern, auch wenn sie wusste, dass man einen Trauernden aus dieser Einsamkeit nicht erlösen konnte. Man konnte sie nur mildern. Doch was würde ihm Trost spenden?
»Herr Ritter?«, fragte sie schließlich zaghaft. »Wollt Ihr für Bruder Ambrosius nicht ein Gebet sprechen?«
Da nickte der Ritter immerhin, und bewegte die Lippen, doch kein Ton war zu hören. Luzinde meinte aber das Credo vernommen zu haben. Spontan kniete sie sich neben ihn, nahm seine Hand und begann, den Rosenkranz zu beten. Erst das Credo, dann das Pater Noster. »Ave Maria gratia plena. Dominus tecum. Benedicta tu in mulieribus, et benedictus fructus
ventris tui, Jesus. Sancta Maria, Mater Dei, Ora pro nobis peccatoribus, nunc et in hora mortis nostrae. Amen.« Drei Ave Maria, ein Gloria, ein Pater Noster. Und sie wiederholte das Ave Maria aufs Neue, und immer weiter fort. Beim siebten Mal fiel Wenzel endlich mit brüchiger Stimme ein. Als sie das zehnte des ersten Gesätzes gesprochen hatten, wurde seine Stimme zum nächsten Gloria Patri fester. Luzinde spürte, wie die Kraft in seine Hand zurückkehrte, bis diese den tröstenden Druck, den sie darauf ausübte, erwiderte. Als der Rosenkranz beendet war, lief dem Mann eine feine Tränenspur über die Wange. Die Starre, die ihn erfasst hatte, war vorbei.
Sie wollte die Hand des Ritters schon loslassen, doch er hielt sie fest. Unwillkürlich suchte sie seinen Blick. Sie dachte, er würde etwas sagen, würde sich bedanken, doch er schaute ihr nur in die Augen. In seinen war Verwunderung zu lesen, Neugier, sowie etwas Tieferes, beinahe Dunkles, das Luzinde erschauern
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