Die Lichtermagd
Almut es meistens, das Fleisch bis zum Monatsende so zu strecken, dass niemand darben musste. Der ganze Hof freute sich auf den Spint, jenes Kesselfleisch aus Resten und Stückchen, oder die frischen Blutwürste. Später im Monat musste man dann wieder mit länger haltbarem Pökel-, Rauchfleisch und Schinken vorliebnehmen. Anfang September aber, etwa zwei Wochen, nachdem Margaret in Pillenreuth eingezogen war, wurden die Stücke des Räucherschinkens im Essen erstaunlich
früh immer kleiner, und die Beginen murrten über die schlechte Planung.
Margaret und Luzinde sollten in dieser Zeit Wurzeln ernten und in eine Sandkiste im Vorratsraum am Beginenhaus stapeln. Die Witwe hatte sich wie üblich zu Beginn der Erntearbeit mit einem Gang zum Abort verabschiedet, so dass Luzinde allein im Beet schwitzte. Als sie eine Ladung zur Vorratskammer trug, prallte sie, den Arm voll Wurzeln, in der Tür mit Margaret zusammen.
»Herrin?«
»Verflucht, Luzinde!«, stieß die junge Begine vor Schrecken hervor und wurde rot. »Du arbeitest ja schnell heute.«
Erst dachte die Magd erfreut, dass sich die Begine dazu entschlossen hatte, ihr bei der Arbeit zu helfen. Dann nahm Luzinde den Duft von Geräuchertem an der Frau wahr und sah die Beule, die sich unter der Arbeitsschürze bildete. »Was hast du da?« Die Magd wies auf die Beule unter dem Stoff. »Ist das ein Stück vom Schinken?«
»Wie kommst du darauf?« Doch der unsichere Tonfall strafte die Worte der Begine Lügen.
»Ich seh die Beule unter deiner Schürze, Margaret«, erwiderte Luzinde. Sie selbst nahm schon mal Geschenke von der Köchin entgegen, doch aus der Speisekammer zu stehlen kam keinesfalls infrage. »Das Fleisch ist für alle gleichermaßen. Es ist doch genug da!«
»Wenn dir deine Portion reicht – gut. Ich bin eine fettere Kost gewohnt als die Betschwestern hier! Davon bekommt man ja kaum einen Spatzen satt!«
»Aber wenn du es alleine isst, müssen alle anderen darben. Das ist kaum gerecht!«Was sie nicht sagte, war, dass das Fleisch zuerst beim Gesinde fehlen würde, das stets die Reste von der Tafel erhielt. Doch Margaret lächelte bloß und trat nahe an Luzinde
heran. Obwohl die Begine einen halben Kopf kürzer war, musste Luzinde den Impuls unterdrücken, vor ihr zurückzuweichen.
»Und was wirst du nun sagen?«, fragte Margaret wie eine Lehrerin, die ein tumbes Kind unterrichtete.
»Wie – was werde ich jetzt sagen«, wiederholte Luzinde verdaddert.
»Nichts wirst du sagen, Dummkopf!«, schalt Margaret. »Du wirst deinen Sabbel halten und mir den Schinken lassen. Und weißt du auch, warum?«
»Weil … weil du sonst mit der Meisterin sprichst.«
»Ganz genau. Und dann werden wir sehen, wer mehr Ärger bekommt! Also füg dich!« Damit schritt die Begine mit dem Schinken fort.
Luzinde konnte nicht zur Meisterin gehen, um die Tat anzuzeigen. Was sollte sie nur tun? Margarets böse Worte machten ihr die eigene Hilflosigkeit so deutlich wie noch nie. Also blieb sie noch einige Augenblicke mutlos vor der Tür zur Vorratskammer stehen und starrte ins Leere. Sie fühlte sich ganz kraftlos. Wie sollte sie jetzt zu ihrer Arbeit zurückzukehren? Wie morgen früh die Kraft finden aufzustehen? Wie sehnte sie die unbeschwerteren Tage auf dem Hof zurück, bevor Margaret gekommen war!
Plötzlich schob sich ein kleines, warmes Händchen zwischen ihre Finger. Sie sah in die lächelnden Augen des kleinen Thomas, der vertrauensvoll zu ihr aufsah. Unwillkürlich erwiderte sie das Lächeln und blinzelte die Feuchtigkeit fort, die sich in ihren Augenwinkeln gesammelt hatte. Sie schickte den Burschen doch stets weg, wenn er sie belagerte.Wieso vermochte er nun, sie derartig schnell zu trösten?
»Alles wieder gut?«, fragte Thomas, wie seine Mutter es sonst tat.
»Ja«, presste Luzinde heraus. »Alles wieder gut, Kleiner.« Sie versuchte, ihre Haltung wiederzugewinnen. »Geh«, meinte sie rau. »Mach deine Arbeit, sonst bekommst du Schelte von der Meisterin!« Und damit kehrte auch sie an ihr Tagwerk zurück.
Doch es war nicht alles wieder gut. Als Fleisch und Schinken wenige Tage darauf ganz im Essen fehlten, ging die Meisterin der Sache auf den Grund. Nach einem Gespräch mit der Kellermeisterin Kunigunde und der Köchin Almut ließ sie die gesamte Belegschaft des Hofes, Beginen wie Gesinde zugleich, im Hof beim Brunnen erscheinen, obwohl es nieselte. »Wenn ich eines nicht unter meinem Dache dulden kann«, sprach sie mit harter Stimme, »dann einen Dieb!
Weitere Kostenlose Bücher