Die Lichtermagd
die Meisterin schnaufend von ihrem Tritt hinter dem Schreibpult herunter und kam auf die Magd zu. »Ich weiß, dass du es nicht warst, Kind. In den fast fünf Jahren, die du bei uns bist, ist dergleichen noch nicht vorgekommen. Warum also jetzt mit dem Stehlen anfangen? Andere dagegen … ich habe da so eine Ahnung. Aber du musst mir schon sagen, wer es war. Ohne eine Klage kann ich auch kein Gericht führen, verstehst du?«
Luzinde nickte bedrückt. Die Begine stahl, log, betrog und nutzte andere schamlos aus. Wie gerne wollte sie Margaret an die Meisterin ausliefern! Doch gleichzeitig wusste Luzinde, dass sie nichts davon bezeugen durfte, denn sonst würde Margaret über ihre gemeinsame Vergangenheit reden, und die Folgen waren klar. Die Klause Pillenreuth war Luzinde ein Heim geworden, seit sie ihres verloren hatte. Der Schmerz des Fortgehens,
die Angst vor der Zukunft damals – das wollte Luzinde niemals mehr wieder erleben. Daher musste sie schweigen. Doch in die Augen sehen konnte sie Meisterin Elisabeth dabei nicht.
Nach kurzer Stille zwischen den beiden Frauen wandte die Meisterin sich wieder um und hievte sich zurück auf ihren Tritt. »Also gut, Luzinde«, sprach sie kühl. »Dann wird der Junge seine Schläge erhalten.«
Luzinde sah erschrocken auf und musterte die Vorsteherin. Innerlich hin- und hergerissen erwog sie, Margaret doch zu verraten. Doch als sie dem Blick der Meisterin begegnete, schüttelte sie blass den Kopf. »Nein, wird er nicht, Herrin. Ihr lasst sicher keinen unschuldigen Burschen verprügeln.«
Zuerst wollte die beleibte Frau aufbrausen. Dann errötete sie beinahe mädchenhaft und murmelte etwas Unverständliches. »Mach, dass du rauskommst«, brummte sie schließlich, und Luzinde wusste, dass sie Recht hatte. »Ja, Herrin.«
Draußen atmete die Magd auf, als sei eine Last von ihr gefallen. Der kleine Thomas würde keine Schläge erhalten, sie würde nicht als Diebin verjagt, und Margarets Geheimnis war gewahrt. Alles war gut. Sie eilte zum Gesindehaus, um Anna und ihrem Sohn die gute Nachricht zu überbringen.
Die dunklen Blicke, die ihr aus einer der Fensteröffnungen folgten, als sie über den schlammigen Hof lief, sah Luzinde nicht.
In der folgenden Nacht schreckte Luzinde aus dem Schlaf hoch. Um sie herrschte völlige Finsternis. Für einen kurzen Augenblick drückte ihr eine namenlose Furcht auf die Brust. Sie hatte einen Traum gehabt, jenen Traum, den sie seit ihrer Flucht aus Lindelberg so oft geträumt hatte. Sie hörte noch das Schreien eines Neugeborenen, eine weinende Frauenstimme –
ihre eigene -, sah Blut an ihren Händen, wieder das Funkeln eines Anhängers, einer Art Münze an einem Lederband …
Luzindes Hand ertastete wie so oft das silberne Bildnis der Heiligen Luzia an ihrem Hals. Dann erkannte sie das zarte Schnaufen der Köchin Almut neben sich im Bett und glich ihren Atem daran an. Sie lag in ihrem Kastenbett zu Pillenreuth. Alles war gut.
Doch die aufgeregten Stimmen vom Hof her kündigten an, dass sie nicht nur geträumt hatte. Sie hörte die Schritte harter Holzschuhe auf den Dielen; eine Laterne erhellte die Küche. Dann wurde der Vorhang beiseite gerissen, der die kleine Schlafkammer abtrennte. Frau Kunigunde, die Kellermeisterin, stand mit Waltraud in der Tür und starrte auf das Bett herab, die Gesichter durch die Schatten einer flackernden Laterne entstellt. Als Waltraud vortrat und sie am Arm packte, um sie unsanft aus dem Bett zu zerren, da wusste sie, dass sich in dieser Nacht alles verändern würde.
»Luzinde? Was ist?«, fragte Almut schlaftrunken.
»Ich … ich -«
»Komm mit zur Meisterin Elisabeth, Metze!«, zischte Waltraud und zog sie wie sie war, im Hemd und ohne Holzschuhe, über den schlammigen Hof, hinüber ins Haus der Beginen. Frau Kunigunde folgte ihnen. Hier in der Kemenate erwarteten sie bereits die übrigen zehn Frauen. Schwester Margaret kniete bleich auf dem Boden neben dem Stuhl der Meisterin und starrte Luzinde genauso verschlossen und abschätzig an wie die anderen Beginen.
»Ist es wahr?«, fragte die Meisterin Luzinde direkt heraus.
Waltraud stieß die Magd ebenfalls auf die Knie, neben Margaret, und trat zurück. Die Magd zögerte. »Wahr? Was?«
»Dass du keine Witwe, sondern eine Metze aus Lindelberg bist«, fuhr Elisabeth Vischbecken mühsam beherrscht fort.
»Dass du die Heiligkeit dieser Gemeinschaft entweiht und uns jahrelang belogen hast. Und dass du die Mutter eines Bastards ohne Vater
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