Die Lichtermagd
sollte sie hingehen? Wie sollte sie ihr täglich Brot verdienen? Wer würde eine heimatlose Streunerin aufnehmen? Als sie später in ihrer rauchigen Kammer die Sachen packte, stellte sie diese Fragen auch Anna.
»Geh nach Nürnberg«, meinte die. »Das ist eine große Stadt, die stets Leute braucht, die vor harter Arbeit nicht zurückschrecken. Und einen Klarissen-Konvent hat es dort auch, und ein Spital, die kümmern sich um die Armen. Oder du gehst nach Roth. Dort erhalten selbst jene Asyl, die anderswo gegen geltendes Recht verstoßen haben.« Anna zögerte und biss sich auf die Lippe. »Ist es denn wahr? Du hast ein Kind?«
Luzinde hatte gegenüber der Meisterin bis zuletzt darüber geschwiegen, ob Margarets Vorwürfe berechtigt waren. Doch die liebe Anna konnte sie nicht anlügen. »Ja«, flüsterte sie. »Ich habe ein Kind.«
»Aber warum um Himmels willen hast du denn so lange geschwiegen?«, fragte Anna. »Warum hast du’s nicht einfach gesagt?«
»Ich wusste nicht wie, Anna«, murmelte Luzinde bedrückt. »Ich hatte Angst, dass ich dann gehen müsste. Und dann wollte ich nur noch alles vergessen, als wäre nichts geschehen.« Sie verstummte kurz. »Es hat mir keine Freude bereitet, dich zu belügen«, setzte sie noch hinzu.
»Verstehe«, meinte die andere Magd, doch Luzinde sah, dass sie nicht verstand. Doch die andere bemühte sich, und das bedeutete ihr viel.
Anna runzelte die Stirn. »Aber, sag mal, wenn du hier warst – wer hat denn in den letzten Jahren für dein Kleines gesorgt?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Luzinde.
»Wie heißt es denn?«
»Ich weiß es nicht.«
»Du weißt es nicht? Ist es denn ein Junge oder ein Mädchen?«
Luzinde schluckte schwer und kämpfte mit den Tränen. Dann flüsterte sie: »Ich – ich glaube, es ist ein Junge.«
Anna stellte keine weiteren Fragen.
Als die Morgensonne am Heiligen Sonntag den Himmel über dem östlichen Frankenwald rot entzündete, nahm Luzinde Abschied von der Klause Pillenreuth. Alle Beginen, Mägde und Knechte hatten sich versammelt, um die beiden Sünderinnen abziehen zu sehen – vermutlich würde man noch in Jahrzehnten über diese Nacht sprechen. Anna,Thomas, selbst Trautmann
waren da. Er vermied es, ihrem Blick zu begegnen. Nur Meisterin Elisabeth war nicht erschienen. Sie ließ Luzinde durch Waltraud noch ein Abschiedswort mitgeben. »Darum werden die Frevler im Gericht nicht bestehen noch die Sünder in der Gemeinde der Gerechten. Denn der Herr kennt den Weg der Gerechten, der Weg der Frevler aber führt in den Abgrund.« Diese Worte nährten die verzweifelte Wut Luzindes auf die Meisterin nur noch. Musste die ihr noch einen Tritt versetzen, obwohl sie bereits am Boden lag?
Das Lebewohl fiel Luzinde nicht leicht. Sie weinte viel und klammerte sich an die liebe Anna, als könnte diese sie vor einer ungewissen Zukunft bewahren. Dann löste die rundliche Magd sich von ihr. »Möge die Heilige Mutter Maria dich beschützen.«
Luzinde küsste die Freundin. »Ich werde mich ihrerWert erweisen«, flüsterte sie. Dann wandte sie sich ab. Sie hatte kaum drei Schritte getan, da riss sich der kleine Thomas von der Mutter los und klammerte sich an ihr Bein. Zum ersten Mal schob Luzinde ihn nicht fort. »Alles wieder gut?«, fragte er weinend und wollte Luzinde zurück zur Klause ziehen.
»Nein,Thomas«, sprach die ehemalige Magd mit rauer Stimme. »Dieses Mal wird nicht alles wieder gut. Ich muss fortgehen.«
»Alles wieder gut? Bitte, bitte?«, wiederholte der Bursche mit kindlicher Verbohrtheit und zog kräftiger. Da drehte sich Luzinde zu ihm um, hob ihn hoch und drückte ihn. »Hab keine Angst«, murmelte sie. »Die Jungfrau Maria wird schon auf mich achtgeben«, sie deutete auf die hölzerne Kapelle mitten auf dem Hof. »Du kannst auch zu ihr beten. Und an mich denken. Ich mach das auch.« Der Kleine nickte weinend.
Als die kleine Glocke von Pillenreuth zur Messe rief, setzte Luzinde den Jungen ab. Sie musste sich fast mit Gewalt aus
seinem Griff lösen. Anna nahm ihn bei der Hand und hielt ihn fest.
So schulterte Luzinde ihr Bündel und wandte Pillenreuth den Rücken. Sie schritt nur zögernd aus, denn ihr Herz war schwer.Was sollte nur aus ihr werden? Was jetzt vor ihr lag, das wusste Gott allein.
KAPITEL 4
So verließ Luzinde den Beginenhof Pillenreuth und machte sich auf nach Nürnberg. Sie folgte dem Karrenweg durch den Wald aus dunklen Tannen und lichten Buchen. Sie kämpfte sich durch den Schlamm des Vortags und
Weitere Kostenlose Bücher