Die Lichtermagd
das dichte Gebüsch, das auf den Weg ragte. Mehr noch aber kämpfte sie mit den Tränen. Sie schimpfte auf Margaret und Waltraud, auf Kunigunde und besonders auf Meisterin Elisabeth. Sie wusste zwar nicht, ob sie dort noch hätte leben wollen, nun, da die Beginen sie anstarrten, als wäre sie eine Aussätzige. Doch der Schmerz darüber, erneut alles verloren zu haben, was Heimat für sie gewesen war, schnürte ihr die Kehle zu, so dass sie kaum zu atmen vermochte. Selbst die diensteifrige Waltraud und die Beginen fehlten ihr. In der Klause hatte sie immer gewusst, dass für sie gesorgt war. Nun fühlte Luzinde sich schrecklich allein auf der Welt.
Man hatte ihr gesagt, dass Nürnberg nicht weit sei – sie müsse stets nach Norden durch den Lorenzer Reichswald, dann könne sie gar nicht fehlgehen. So gern Luzinde in der Umgebung der Klause allein durch den Wald gewandert war, diese Reise ängstigte sie. Die tiefgefurchten Wege ähnelten einander so sehr. Wenn sie fehlginge oder jemand sie überfiele – wer würde dann nach ihr suchen? So hastete sie mit klopfendem Herzen und schweißnasser Stirn durch Fichten und Fören, über Teppiche von Preisel- und Schwarzbeeren und betete, dass sie sich nicht verirrt hatte oder auf räuberische Gesellen stieß.
Doch endlich, nach Stunden der Wanderung, wich der Wald schließlich zurück und gab den Blick auf meilenweite Felder
frei. In ihrer Mitte thronte eine gewaltige Stadt, und über dieser Stadt eine Feste, so trutzig, wie Luzinde noch keine gesehen hatte. Die Größe des Ortes verschlug ihr für einen Augenblick den Atem. In ihrem Schatten kam sie sich noch kleiner vor als ohnehin schon. Hier mussten mehrere tausend Menschen wohnen!
Vor Nürnberg aber befand sich, so schien es zumindest, noch eine zweite kleinere Stadt, die selbst so manches Dorf an Einwohnern übertraf. Es handelte sich um eine Zeltstadt, in der es von Rittern, Ministerialen, Knechten und Pferden nur so wimmelte. Der Wind wehte Gestank herüber, der einer Kloake Konkurrenz machen konnte. Herz dieses Lagers war ein riesiges Zelt, über dem noch kein Feldzeichen flog. War denn Krieg? Oder gar ein Reichstag auf der Kaiserfeste der Stadt? Die Magd sah einen Trupp klobig gerüsteter Rittersleute auf schweren Pferden zielstrebig davoneilen. Sie selbst hielt sich verborgen, bis die Männer weg waren. Dann machte sie vorsichtshalber einen weiten Bogen um die Zeltstadt. Bei so machtvollen Herrschaften wusste man nie …
So betrat Luzinde staunend die Stadt Nürnberg. Als sie an den ersten Hütten vorbeiging, erkannte sie schnell, dass die Stadt deshalb so riesig wirkte, weil sie längst über die sie umgebende Stadtmauer hinausgewachsen war. Zwar baute man bereits an einem neuen Wall, der auch diesen Außenbezirk mit einschließen sollte, doch noch duckten sich hier draußen Holzund Lehmbauten so eng aneinander, dass die Magd schon bald den Überblick verlor. Alles schien gleichermaßen dreckig und eng, Bettler und Krüppel humpelten in Lumpen durch die matschigen Straßen. Bauernkarren rumpelten, von mächtigen Kaltblütern gezogen, stadtauswärts, so kurz vor dem Mittag bereits von ihren Gütern befreit. Ein Deutschordensritter, kenntlich am schwarzen Kreuz auf weißem Grund, trottete
langsam auf seinem schweren Ross an ihr vorbei. Und jeder, so schien es, starrte sie an und konnte ihr an der Stirn ablesen, dass sie eine Fremde ohne Heim war. Luzinde hoffte nur, dass niemand ihre Habe als ausreichende Beute ansähe, um sie zu berauben. Und so klammerte sie ihren Beutel an sich und strebte mit schnellen Schritten zur Durchfahrt des hoch aufragenden hellen Turmes in die Stadtmauer hinein.
Innerhalb der Mauern waren die Straßen in geringfügig besserem Zustand, denn Gräben leiteten das Regenwasser ab. Allerdings saßen hier keine Bettler an den Rändern – die hatten offensichtlich ihre festen Plätze an den Kirchen. Also wanderte Luzinde die Straßen entlang, die einen seichten Hügel hinaufführten. Viele Holzhäuser hier standen genau so krumm und schief wie vor den Mauern. Die Schilder über den Türen zeugten von den Handwerken ihrer Besitzer, man sah Feuerzangen, Scheren und andere Darstellungen. Luzinde sah über Steinhäusern rauchende Schlote und lauschte auf die Geräusche der Handwerker aus den Häusern: das Hämmern eines Zimmermannes, das Singen eines Schneiders, das Klingen von Hammer auf Amboss. Sie hörte das dumpfe Dröhnen eines Mühlsteins und machte gar das Zeichen eines Hutmachers aus.
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