Die Liebe am Nachmittag
Todesahnung, weiß der Himmel warum. Und ich versuche, mir mit geschlossenen Augen vorzustellen, dass ich in zehn, zwanzig Jahren so daliegen werde in dem Bewusstsein, dass ich jetzt sterbe! Wie wird das sein? Wird es tatsächlich eintreten? Ich kann es nicht glauben, und niemals komme ich ans Ende dieser Vorstellung.
Was Naturwissenschaftler, Doktoren, gewichtige Philosophen auch immer sagen, um uns Gutes zu tun, das alles hilft nicht weiter; wir fürchten uns trotzdem unbändig, wie die Tiere.
Aber, liebe 5Fleurs, solche Ängste sind, glaube ich, das Aufbegehren unserer Gesundheit, unseres gesunden Körpers, nicht der Seele.
Ich bin der Meinung, dass sich immer nur der Körper fürchtet, nicht die Seele, also nicht das Bewusstsein.
Wäre der Tod eine Katastrophe, eine Ungerechtigkeit, ein Mord, den jemand an Unschuldigen begeht, der Gedanke daran würde uns in den Wahnsinn treiben; mit einem so schurkischen Plan könnte man sich nicht abfinden.
Die Todesfurcht ist vielleicht genauso eine Notwendigkeit des Lebens und unseres Fortbestands wie der Appetit.
Wir leben, nicht wahr? Sind auf der Weltbühne aufgetaucht. Wir sollten uns, meine Liebe, in dieses Wunder nicht einmischen, es zu begreifen, ist unmöglich. Wir waren nicht hier,plötzlich sind wir da und irgendwann dann nicht mehr. Das ist es, was wir sehen, nicht weniger und nicht mehr.
Stellen Sie sich vor, das Leben hätte etwas dagegen, dass dieses Wunder ein Ende hat, wie würden sich die Menschen und die Tiere hier auf Erden freuen und herumtollen. Die Kreaturen hätten schon vor hunderttausend, ja Millionen Jahren der Natur gekündigt; diesem Schwindel nicht ihre teuren Früchte geopfert.
Hätte ich, dieses gegenwärtige Exemplar von mir, auf ewig das Recht, hier zu sein, so würde das doch bedeuten, dass ich schon seit aller Ewigkeit hier bin und nicht erst seit diesen fünfundvierzig Jahren, nicht wahr?
Ich halte es einfach für eine Unverschämtheit, dass die Menschen auferstehen, wieder und für immer da sein wollen, diese Millionen und Abermillionen kleinen Niemande; Entschuldigung, damit sind nicht Sie gemeint.
Ich zum Beispiel erwarte ebenso wenig meine Wiederauferstehung wie die Zwetschge, die ich gegessen habe.
Alles, was mir im Leben wohlgetan hat, war dem Tod ähnlich. Der viele, tiefe Schlaf, das Fast-Versunkensein ins Gedankenlose, das reglose Ausruhen, das Alleinsein auf Feld und Meer, verloren in der Unendlichkeit; diese in den Stunden der Liebe empfundene blinde Wonne und das ohnmächtige Übermaß des Schmerzes wie der Schwärmerei sind etwas so abgrundtief Gutes, dass darin das Bewusstsein des Lebens geschwunden ist.
Du willst nicht sterben, arme 5Fleurs? Möchtest hier verweilen? Wie stellst du dir das vor? Du würdest ja nicht so blühend und wohlgemut erhalten bleiben, denn auch du musst alt werden, leider! Willst du dann inmitten der neuen schönen Damenwelt umherschlurfen, ohne die Liebe und so, wie du mit achtzig aussehen wirst, mit eingefallenem Mund und dem schmalen, kleinen, einer Elfenbeinschnitzerei gleichenden Gesichtchen? Halbblind und taub? Dein Kind und alle, mitdenen du jetzt zusammen bist, begraben? Und wie lange wärst du hier? Kannst du dir denn diese grauenvolle Ewigkeit überhaupt vorstellen?
Hast du noch Geduld, mir zuzuhören? Jetzt kann ich dich nicht siezen, gestatte bitte, dass ich noch für eine Minute unerzogen bin.
In manchen Augenblicken sehe ich das ganze Leben in so hellem Licht vor mir. Das ist die Ewigkeit, das ist das einzige Leben. Schade, dass deine kleine Uhr keinen Minuten-, besser Sekundenzeiger hat; die meine hat ihn. Wie lang doch eine Minute ist, wenn du den winzigen Zeiger beobachtest. Wie lang sind diese siebzig oder hundertvierzig Jahre, wenn man das Leben der Menschen dereinst so weit verlängern kann. In diesem Leben sind enthalten: der Frühling der Kindheit, der Sommer der Jugend, der Herbst der Reife und der Winter des Alters. Ein einziges Jahr bietet dasselbe Programm wie die unendliche Zeit; das glückliche Jahr des Lebens muss in die Welt kommen, darum streiten sie sich, siehst du, dafür rüsten sie sich wie für den Feiertag. Und da wird dann jeder gesund sein und jeder sich seines Lebens freuen, und dieses vollkommene Leben endet dann mit einem letzten süßen Schluck und einem zufriedenen Aah!, mit dem wir den Becher absetzen, wenn wir den letzten Tropfen weggeschlürft haben.
Bevor diese Welt nicht anbricht, muss man aus Einsicht sterben, und aus Treue, weil auch
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